Ritalin und Hochbegabung
Zweifelhafte “Wunderwaffe” Ritalin!
In der letzen Zeit waren vermehrt kritische Artikel über die Diagnose “Hyperaktivität”und die medikamentöse Therapie von Kindern mit Ritalin und vergleichbaren Präparaten zu finden.
Die hier zitierten Stellen stammen aus:
Lieblingsdiagnose: Zappelphilipp (SZ) und
Ritalin-Kinder: Die Lehrer sind überfordert (Tagesanzeiger)
Die Verschreibung von Ritalin aufgrund der Diagnose ADHS ist in den letzten Jahren dermaßen sprunghaft angestiegen, dass es äußerst zweifelhaft erscheint, dass dieses Medikament tatsächlich immer nach wirklich sorgfältiger Diagnose verordnet wurde und wird.
So sagt denn auch Florian Heinen, Leiter der Kinderneurologie am Haunerschen Kinderspital der Universität München: “ADHS ist eine argumentative Missbrauchsplattform”.
Und: “Ritalin ist für die Lehrer der schnellste Weg, auffällige Kinder in den Griff zu bekommen” (Georg Feuser, Professor für Sonderpädagogik an der Universität Zürich).
Um Missverständnissen vorzubeugen: Es gibt Kinder und es gibt auch Erwachsene, für die Ritalin ein wirklicher Segen ist und die durch die Einnahme dieses Medikamentes zum ersten Mal überhaupt in die Lage versetzt werden, ein alltagstaugliches Leben führen zu können.
Das “Aber” wiegt dennoch schwer:
“Manchmal kommt die Diagnose ADHS aber auch eher den Bedürfnissen der Eltern, Psychologen, Ärzte und Erzieher entgegen und nicht den Kindern. Wenn endlich eine medizinische Erklärung für auffälliges Verhalten gefunden wird, und sich alle darauf geeinigt haben, dass das Kind krank ist, sind andere Beteiligte entlastet. Familiäre oder schulische Konflikte bleiben dann unbenannt. Und Ärzte müssen nicht mühsam das soziale Geflecht entwirren, in das ein Kind möglicherweise verstrickt ist. … Es gibt Hinweise auf psychosoziale Ursachen des Leidens. Stress verschlimmert die Beschwerden. Bei Kindern aus Unterschichtfamilien und von Alleinerziehenden wird häufiger ADHS diagnostiziert. In Migrantenfamilien ist das Leiden hingegen seltener."
Vielleicht weil dort mehr Toleranz für aktive und tobende Kinder zu finden ist?
Auch in der Beratung Eltern hochbegabter Kinder höre ich immer häufiger, dass Kindern mit einer erschreckenden Selbstverständlichkeit gegen ihre “Unruhe” in der Schule und ihren “Konzentrationsmangel” Ritalin verordnet wurde, sehr schnell meist – und höre von den Eltern im selben Moment, dass ihre Kinder aber stundenlang konzentriert arbeiten würden, wenn ihnen etwas Schwierigeres als üblich vorgelegt wird.
Ich kann mich da nur an den Kopf greifen!
Hört da keiner die Signale?!?
Häufig sind diese Kinder schon als hochbegabt diagnostiziert. Statt dass nun aber Konsequenzen aus dieser Diagnose gezogen worden wären – Überspringen einer Klasse, besondere Aufgaben etc. – wurde so getan, als sei nichts und ließ alles einfach weiterlaufen wie gehabt. Das Kind blieb natürlich unruhig wie zuvor.
Da sollte es dann das Ritalin richten.
Dieses Vorgehen grenzt an Körperverletzung – von der seelischen Qual nicht zu reden, die die Kinder erdulden müssen, weil keiner mit ihnen vernünftig umzugehen vermag.
Im Tagesanzeiger lese ich nun dies:
“Studien zeigen, dass ein gewisser Zusammenhang zwischen dem Aufmerksamkeits-Syndrom und Hochbegabung besteht. Manche betroffene Eltern glauben darum, dass ihre Kinder hochbegabt sind.”
Auch da kann ich mich nur an den Kopf greifen: Viele dieser “auffälligen” Kinder haben doch gar kein Aufmerksamkeitssyndrom, sondern sind chronisch unterfordert und wissen nicht, wohin mit sich!!!
Dass man sich NICHT mit ruhiger Konzentration auf das zwanzigste Blatt mit der Aufgabe, das 8000ste “Q” auszumalen stürzt, wenn man schon fließend lesen und auch vernünftig schreiben kann, das hat mit ADHS nichts zu tun, sondern mit der pädagogischen Unfähigkeit der betroffenen Lehrer und Eltern.
Umgekehrt wird ein Schuh aus der Aussage des Tagesspiegels: Viele Eltern (und Lehrer) glauben nicht, dass die betroffenen Kinder hochbegabt sind und dichten ihnen ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom an, damit sich das “Problem” mit Ritalin erledigen lässt.
Es ist viel die Rede von überehrgeizigen Eltern, die aus ihren verhaltensauffälligen Kindern gerne hochbegabte machen wollen: Ich habe allerdings in den vielen Jahren der Beratung dieses Phänomen sehr selten angetroffen. Die Eltern, mit denen ich gesprochen habe, neigen eher dazu, die Hochbegabung ihrer Kinder herunterzuspielen, sie wollen meist nur ein “normales” Kind und neigen gerne allzu schnell dazu, übereifrigen Ärzten zu glauben, mit Ritalin würde alles wieder heile werden – einfach so.
Dafür spricht auch Folgendes:
"Viele Kinder mit der Diagnose haben kein Aufmerksamkeitsdefizit – ihre Aufmerksamkeit ist nur nicht da ist, wo Eltern oder Lehrer sie gerne hätten", sagte ein Arzt für Familientherapie in einem Vortrag. Er bekam Anrufe empörter Eltern. Sie entrüsteten sich darüber, dass ihren Kindern die Diagnose streitig gemacht wurde.”
Lisa Rosa schrieb am 12. März 2009 um 19:09:
Vielen Dank für das interessante Post! Vielleicht passt dazu auch ganz gut die Erfahrung meines ehemaligen Schülers, der wegen Sprachentwicklungsstörung und Hyperaktivität an einer Sonderschule landete und sich dann – immer entgegen der Empfehlung und den Widerstand seiner Lehrer – doch noch bis in mein Gymnasium “hochgearbeitet” hat, und dort das Jahrgangs-Besten-Abitur abgelegt sowie kürzlich ein Einser-Ingenieurs-Dipolom … Zum Glück hatten seine Eltern das verordnete Ritalin rechtzeitig weggeworfen.
(Interview mit Manuel: “Vom Sonderschüler zum Diplomingenieur” http://lisarosa.twoday.net/stories/5455956/)
Ganz wichtig finde ich den Satz am Schluss des Beitrags:
“Viele Kinder mit der Diagnose haben kein Aufmerksamkeitsdefizit – ihre Aufmerksamkeit ist nur nicht da ist, wo Eltern oder Lehrer sie gerne hätten”
Wenn wir ihn ernst nehmen, dann kann er uns wegführen von der sinnlosen Eintütung in “hochbegabt”, “normal begabt”, “minder begabt”. Was wissen wir schon über “Begabung” und wo sie herkommt? Aber eins wissen wir: Jedes Kind ist anders. Und Lernen kann man nur, wenn man einen Sinn darin für sich entdecken kann. Dies gilt für Kinder so gut wie für Erwachsene. So ist es vielleicht auch nicht sinnvoll, in “Über-, Unter-, und Genaurichtig-(Ge)forderte” zu unterscheiden, sondern vielmehr an der Entwicklung einer Schule und eines Unterrichts zu arbeiten, denen es gelingt, ihren sehr verschiedenen anvertrauten kleinen und größeren Menschen den Lernraum zu bieten, in dem sie das für sie Sinnvolle selbstbestimmt lernen können. Da lernen übrigens auch Kinder mit Trisomie 21 lesen, schreiben und rechnen – wie es Rolf Robischon bewiesen hat. Und keiner lernt es nicht, denn alle wollen von Natur aus lernen, was sie brauchen, um sich optimal in der menschlichen Gesellschaft zu entfalten. Wenn man sie nicht dabei stört, wie Robischon sagt.
speybridge schrieb am 12. März 2009 um 19:36:
Das kann ich nur unterstützen. Es wird sich in diese Richtung auch eine Menge tun (müssen) in der nächsten Zeit (siehe: “Das ist die Richtung” vom 1.3.). Man wird Abschied nehmen vom zielidentischen Unterricht – und individuell schauen, was richtig und angesagt ist bei jedem Kind. Letztendlich, wenn sich das eingespielt hat – das glaubt nur noch niemand – wird das zu einer Entlastung der Lehrer führen und zu mehr Freude am Beruf. Für alle wird es dann weniger Stress geben.
Und was träume ich heute Nacht :-) …?