Gemeinsam für Misereor: Wise Guys und Slumdog Millionär
Slumdog Millionär, der mit 8 Oscars prämierte Film kommt am 19. März in die deutschen Kinos.
Ich habe ihn schon gesehen: In der letzten Woche hatte ich das Glück, noch Karten für eine Veranstaltung der besonderen Art zu bekommen:
In einem der größten, schönsten, ältesten und bekanntesten Kinos Deutschlands, der Lichtburg in Essen, fand ein Event statt, das die Verleiher von Slumdog Millionär zusammen mit dem Hilfswerk der katholischen Kirche Misereor auf den Weg gebracht hatten. Diese Zusammenarbeit – initiiert schon lange vor der Oscar-Verleihung – soll beiden nutzen: den Film promoten und Misereor Spenden für seine Aktion 2-Euro-helfen einbringen.
Viele Prominente unterstützen die Misereor-Aktion – und so war denn auch schnell für ein attraktives Vorprogramm gesorgt: die Wise Guys, die sich bereit erklärten, an diesem Abend ohne Gage aufzutreten.
Die Veranstaltung in der mit 1250 Plätzen ausgestatteten und ausverkauften Lichtburg sah also so aus:
- Ein paar einleitende Worte der Verantwortlichen inklusive einem kurzen Interview mit den Wise Guys, die, gewohnt locker, in dem Kino viel näher und persönlicher wirkten als in den großen Hallen
- ein kleines Konzert der Wise Guys samt jubelnd eingeforderter Zugabe, bei dem sich auch der Neue, Nils, in einem eigenen Song vorstellte
- Vorführung des Filmes Slumdog Millionär – zum ersten Mal in deutscher Sprache
Wirklich eine attraktive Zusammenstellung!
Natürlich waren die Wise Guys gut, natürlich war ihr schönes kleines Vorprogramm-Konzert viel zu kurz – ausführlicher eingehen möchte ich aber auf den Film.
Slumdog Millionär: hochprämiert, hochgelobt, aber auch kritisiert.
Der Plot ist schnell erzählt: Ein Junge aus den Slums, Jamal Malik, gerät in die indische Ausgabe der Sendung “Wer wird Millionär”, eigentlich nur, um durch das Medium Fernsehen seine geliebte Freundin Latika wiederzufinden. Er beantwortet aber Frage auf Frage, weil alle diese – sehr unterschiedlichen – Fragen etwas mit seinem bisherigen Leben zu tun haben, was in Rückblenden deutlich wird. Dann steht er vor der letzten, entscheidenden Aufgabe…
Dies zuvor: Der Film ist absolut sehenswert, und ich werde ihn mir vielleicht auch noch ein zweites Mal anschauen. Trotzdem hat er mich etwas ratlos zurückgelassen.
Die Bilder sind sehr ästhetisch, die Regie äußerst gekonnt, Spannung ist absolut gegeben bis zuletzt, die Schauspieler, auch die indischen Kinder, agieren sehr gut, die Charaktere sind zwar nicht besonders tief gezeichnet, aber auch nicht holzschnitzartig, Indien als “Ort der Handlung” ist faszinierend, es gibt eine Liebesgeschichte – und dennoch…
Ich habe mich gefragt, was eigentlich das “Innerste” des Films ist, seine “Seele” sozusagen. Etwas hat mich nämlich aufmerken lassen: Trotz der sympathischen Hauptdarsteller, der Liebesgeschichte, der Spannung der Handlung etc. habe ich mich nicht wirklich identifizieren können – weder mit einer Person noch mit der Liebesgeschichte noch mit der hohen Spannung noch mit der elenden Situation in den Slums.
Den Plot, die Personen, die Liebesgeschichte, den Krimi, die Slums – all dies habe ich nicht als Zentrum des Films erlebt.
Ich habe nicht wirklich mitgefiebert, nicht wirklich mitgelitten. Anlass dazu wäre genug gewesen.
Der Film hat mich fasziniert – aber dennoch kühl zurückgelassen.
Es stellt sich die Frage nach dem Warum.
Ich habe eine Zeit gebraucht, um meine Reaktion zu verstehen – wobei ich meinen Eindruck, meine Analyse, hier natürlich als meine rein subjektive verstanden haben möchte.
Irgendwann ist mir aufgegangen:
Das Zentrum, das Innerste des Filmes, ist es nicht, eine lebendige Geschichte mit lebendigen Menschen zu erzählen, die zudem in einem Slum in Indien leben, was Mitleid erregen könnte. Das Zentrum, das Innerste des Filmes, ist es, ein abstraktes Prinzip zum Leben zu erwecken:
Das Aufeinanderprallen von Gegensätzen.
Davon lebt der Film. Das macht ihn faszinierend.
Das ist aber auch der Grund für die Kühle, die ich empfunden habe:
Nicht lebendiges Leben wird offenbart, sondern: Ein Prinzip wird mit Leben angereichert.
Herausgekommen ist dabei ein eindeutig spannendes, faszinierendes, buntes Kaleidoskop von Bildern, Handlungen und Eindrücken, dem es aber in der “Mitte” an echtem Leben, wirklichem Gefühl und mitfühlender Anteilnahme an den Schicksalen der Personen fehlt.
Indien bietet natürlich für die Umsetzung eines solchen Prinzips des Aufeinanderprallens der Gegensätze die absolut perfekte Projektionsfläche.
Schon im Titel des Films, der sowohl Plot als auch Prinzip präzise zusammenfasst, prallen die ersten Gegensätze aufeinander: Slumdog – Millionär.
Das ist Programm.
So kontrastieren ästhetische Bilder mit Scheiße im wahrsten Sinne des Wortes, eine gewisse “Slumidylle” mit einem brutalen Überfall, hässliche Hütten-Armut mit dem strahlenden Taj Mahal, die reichen Touristen dort mit den Jungs, die deren Schuhe klauen und im Slum wieder verhökern, Liebe mit Zwang zur Prostitution, Naivität und Menschenfreundlichkeit mit krimineller Brutalität und Härte, Erfolg mit Enttäuschung, Humor mit bitterbösem Ernst, vordergründige Freundlichkeit des Moderators mit abgezockter Häme hintenherum, Slumhütten mit modernen Hochhäusern, Fortschritte mit Rückschlägen, Folter mit Unterstützung, Lüge mit Wahrheit und so weiter und so weiter.
Man kann die Gegensätze alle gar nicht benennen.
Selbst innerhalb einer Person wird das Aufeinanderprallen von Unvereinbarem spannungsvoll inszeniert: Im Bruder des Protagonisten: Heruntergekommen zum “bösen”, skrupellos tötenden Gangster, der sich auch brutal gegen Jamal wendet, rettet er dennoch zweimal, im Grunde psychologisch nicht wirklich motiviert, in existentiell wichtigen Situationen Leben und Liebe seines Bruders – zwei Seelen in einer Brust.
Nur der Protagonist Jamal Malik ist gradlinig, fast ein-fältig, geht irgendwie traumwandelnd sicher und unkorrumpierbar durch alle Wirrungen hindurch, ist nicht zu brechen – und gewinnt am Ende.
Die letzten Bilder sind eigentümlich, als nehme sich der Film letztendlich selbst nicht ganz ernst. Im Grunde bedeuten sie einen Stilbruch – oder eben auch gerade nicht: Wieder – ein letztes Mal – prallen Gegensätze aufeinander. Diesmal vereinigen sie sich: Slumdog Millionär wagt ein Tänzchen mit Bollywood.