Archiv für die Kategorie Unterwegs

Sommerrätsel – nicht nur für Hochbegabte

                   goerlitz

Na, was will uns dieses Hinweisschild sagen?

Gefunden in Görlitz auf unserem Weg nach Süd-Polen, wo wir im Juni/Juli drei äußerst schöne und interessante Ferienwochen verbracht haben – und zwar in Oppeln, Zakopane, Krakau und Breslau. Sehr empfehlenswert!

 

England III – Thank You Teacher

Als Übergang, um so langsam wieder zu pädagogischen Themen zu kommen – schließlich ist mein Urlaub zu Ende – bietet sich die Schilderung einer Besonderheit des sozialen Lebens in der englischen Gesellschaft an, eine Besonderheit zumindest in dem Sinne, dass wir hier in Deutschland nichts Vergleichbares haben.
Dabei geht es um ein Ritual am Ende eines jeden Schuljahres:

Thank you teacher! heißt die kollektiv erwartete “individuelle” Danksagung an den geliebten “best teacher” vor den Sommerferien.

Zu dieser Aktion gibt es eine enorme Industrie, die Waren aller Art anbietet, um den eigenen Lehrer glücklich zu machen: Glückwunschkarten in allen Größen und Formen, Gedicht- und Textvorschläge dazu, Geschenkhinweise in den Warenhäusern und im Internet wie “Thank you teacher – Special gifts for your teacher”: Parfum, Schreibwaren, Kinokarten und und und…

thankyou

Auf unterschiedliche Art und Weise praktiziert, gibt es diese Lehrerwürdigung in vielen Ländern.

Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob ich mir Ähnliches hier für uns wünsche.

Auf den ersten Blick hat das Ganze etwas, denn eine solche Danksagungsaktion ist ja doch eine “kollektiv individuelle” Würdigung der Lehrer und des Lehrerberufes.
Während es hierzulande eher “in” ist – und alle und auch die Schüler machen mit – , Lehrer gerne in jeglicher Weise negativ anzugehen und mit Schuldzuweisungen zu überschütten, scheint in England doch eine ganz andere und zwar wertschätzende Art der Kommunikation zwischen Lehrer und Schüler vorzuherrschen. 
Ich bin mir nur nicht sicher, ob das tatsächlich der Fall ist oder ob die ritualisierte Danksagung an die Lehrer am Ende eines Schuljahres – man kennt ja das vom Muttertag her – nicht nur ein Feigenblatt ist, das eine Wertschätzung aufscheinen lässt, die sich in der alltäglichen Beziehung im Schulalltag nicht wiederfindet.

Individuell und in der konkreten Situation – ganz unaufwändig und vielleicht nur mit ein paar Worten – Wertschätzung den Menschen gegenüber auszusprechen, mit denen man es zu tun hat, das ist etwas, das jedem in jeder Situation möglich ist. Wir tun das alle viel zu selten…
Aktionen wie “Muttertag”, “Thank you teacher” etc. an festgelegten Tagen scheinen mir da eher Ausweichaktionen zu sein, den persönlichen Dank in der konkreten individuellen Beziehung zu umgehen.

 

England II – Splendid isolation: Der lange Weg nach Europa

Kennt jemand Trago Mills? Nein? Das ist eine echte Bildungslücke. Jeder, der Devon und Cornwall bereist – und nun auch Wales – sollte sich das “Vergnügen” antun, eine der Trago-Mills-Ramschwelten kennenzulernen. Vor allem die in Newton Abbot ist unvergleichlich: Stunden kann man in den riesigen Hallen beim Wühlen in billigem Zeugs verbringen – und ein Vergnügungspark ist auch gleich mit dabei gebaut, damit der Sonntagsausflug auch für die Kinder zum Erlebnis wird. Trago Mills hat immer offen…
Warum ich über Trago Mills schreibe, wenn das Thema Europa ist?
Das ist unverkennbar für jeden, der sich einer der Ramschwelten, die in riesigen Hallen und Gebäuden untergebracht sind, nähert. Auch da ist vor allem Newton Abbot unvergleichlich: Über einen Kilometer ist die Auffahrt zu Trago Mills dort lang – wie zu einem hochherrschaftlichen Palast – und alle paar Meter sieht man, wess’ Geistes Kind der Besitzer all dieser Herrlichkeiten, Bruce Robertson, ist: Riesengroße Plakate, Fahnen und was sonst noch künden laut und eindringlich und unübersehbar von der europafeindlichen (UKIP) des einflussreichen Mannes:

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Bruce Robertson ist natürlich eine Einzelperson, wenn auch eine bekannte, die eine sehr effektive und publikumswirksame Art gefunden hat, ihren Einfluss geltend zu machen. Er steht aber nicht allein. Die Europaskepsis der Briten ist überall zu finden. Die Ergebnisse bei der Europawahl (UKIP 16,5 % – und damit an zweiter Stelle nach den Konservativen mit 27,7 % und noch vor Labour mit 15,7 %) sprechen eine deutliche Sprache.
Selbst respektable, ansonsten sehr aufgeschlossene Menschen zucken zusammen, wenn man sie auf die EU und vor allem den Euro anspricht. Völlig irrationale Dinge kommen da zum Vorschein, durchaus mit der Entschuldigung, dass man wisse, dass das altes Denken sei, man aber nicht anders könne. Da ist historisch einfach noch kein Boden bereitet für ein “Aufgehen” in einem “europäisch-kontinentalen” Kontext. Das wird noch Zeit brauchen. Aber ob die Briten die tatsächlich haben angesichts der “prekären” wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung ihres Landes, das bleibt anzuzweifeln.

Viel hat sich allerdings im alltäglichen Leben schon verändert:
In der Wettervorhersage war es früher klar und eindeutig, dass wir armen Kontinent-Bewohner immer umrechnen mussten, wenn wir wissen wollten, ob Bikini-Wetter im Anmarsch oder Pullover angesagt war: Grad Fahrenheit hieß unser mathematisches Problem. Heute kaum mehr ein Thema. Jeder redet von Grad Celsius, höchstens in einem Nebensatz ist dann noch eine Umrechnung in Fahrenheit zu vernehmen. Thank you.

Gallonenpreise an den Tankstellen (1 Gallone = 3,78541178 Liter) gehören auch der Vergangenheit an. Vor 6 Jahren waren sie noch ab und an anzutreffen, vor 20 Jahren gang und gäbe. Der Liter ist an den Tankstellen angesagt. Viele Bewohner trauern allerdings deswegen und rechnen für sich immer noch den Literpreis in Gallonenpreis um… Für sie hat nur die Gallone eine sinnlich fassbare Bedeutung.
Im Pub trinkt man nach wie vor sein Pint. Dass sich das jemals jemals jemals ändern wird, das glaube ich allerdings nicht. Das ist, als würde man den Bayern ihr Maß wegnehmen. (Mit dem Pint kann ich übrigens wunderbar leben: Cheers!!)

Weitgehend tabu ist und bleibt allerdings eindeutig der Euro. Angesichts des Werteverfalls des britischen Pfundes, das um die Jahreswende schon mal 1:1 umgerechnet wurde, im Moment wieder etwas mehr, scheint mir das extrem kurzsichtig zu sein.

Die Meile mit ihren umrechnungsunfreundlichen 1,609344 km ist immer noch nicht kaputtzukriegen, obwohl es hier und da Ansätze gibt, das metrische System einzuführen. Diese Versuche werden jedoch, wenn sie bemerkt werden, schnell boykottiert. Das Ganze zeigt ab und an skurrile Züge:

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Hier scheint selbst das menschlichste aller menschlichen Bedürfnisse nicht so dringend gewesen zu sein wie das Verlangen, Recht und Ordnung auf der Insel wiederherzustellen. Na?? Stimmt die Umrechnung? Zu den äußerst gewöhnungsbedürftigen Maßeinheiten und ihren Umrechnungen ins metrische System gibt es hier ergänzende und erleuchtende Einsichten.

Britains’ Weg nach Europa ist noch lang. Jahrhunderte der splendid isolation inklusive eines gewissen Überlegenheitsgefühls sind nicht in ein paar Jahren wettzumachen. Das braucht Zeit – und, nach den politischen Skandalen der letzten Zeit, vielleicht den Einfluss einer jüngeren Generation. Ob diese allerdings die Offenheit und Entschlusskraft mitbringt, den eindeutigen “Anschluss” an EU und Euro durchzusetzen, das weiß ich nicht. Perspektivlosigkeit ist bei der englischen Jugend durchaus ein kritisches Thema, und die ist keine gute Basis, Kraftakte dieser Art zu vollbringen. Wir werden sehen.

Was übrigens gerne bleiben kann: Der Linksverkehr und die phantastischen Kreisverkehre. :-)

 

England I – Back again

Einen ganzen Monat Pause hat es in diesem Blog gegeben. Der Grund – Neidäußerungen erwünscht – liegt darin, dass wir 3 1/2 Wochen durch die Mitte und den Süden Englands gefahren sind. Wie immer haben wir an unterschiedlichen, diesmal vier und z.T. uns schon bekannten, Orten jeweils mehrere Tage verbracht, um ins Lokale einzutauchen und die Gegend zu erkunden.

Wir sind keine Britain-Neulinge. Es mag das 15. oder 16. Mal gewesen sein, dass wir die Insel besucht haben. Sie ist irgendwo unsere zweite Heimat, und ich denke, ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass wir uns sehr wohl und auch im alltäglichen Sinne dort ganz gut auskennen. Allerdings haben wir eine Pause von immerhin sechs Jahren eingelegt, in denen wir zur Urlaubszeit Osteuropa erkundet haben.

Nun also wieder zurück nach England. Wir waren gespannt, was sich in diesen letzten sechs Jahren denn wohl auf dieser verrückten Insel verändert hat.

Es hat sich einiges verändert – nicht alles hat mir gefallen.

Zunächst das Positive:

  • die Seebäder in Cornwall und Devon wirken deutlich aufgewertet. Vieles ist aufgehübscht, angestrichen und modernisiert.
  • Das Pfund ist gefallen. Dadurch wird das generell recht hohe Preisgefüge, besonders, was Unterkünfte und die heftigen Eintrittsgelder angeht, erträglicher.
  • Das Essen ist z. T. gerade in den Pubs innovativer geworden – bei moderaten Preisen. Surprise!
  • Das gängige Pub-Essen ist gleichzeitig deutlich preiswerter geworden. Angebote wie “2 for 10” waren häufig.
  • Der Kaffee ist deutlich besser geworden, auch durch Ketten wie “Costa” und Co.
  • Es gibt Ansätze, dass man auch draußen essen und trinken kann. Die Gesetzgebung mit ihren merkwürdigen Lizenzbestimmungen macht es den Gaststätten und Cafés allerdings  noch schwer, Außengastronomie zu betreiben.
  • Endlich wird der Flut der Plastiktüten Einhalt geboten: Jute und wiederverwendbare Taschen sind in. Alle Supermärkte verzichten zunehmend auf das massenweise Ausgeben der Tüten und werben sehr aktiv für’s Wiederverwendbare. Teilweise (M&S und andere) wird auch schon Geld für die Tüten verlangt, zumindest im Food-Bereich. Immerhin soll sich die Zahl der Plastiktüten schon halbiert haben.
  • Es gibt mittlerweile tatsächlich Müllcontainer für Flaschen und Plastik.

Das, was mir nicht gefallen hat:

  • Der Generationenwechsel – eben auch im Tourismusbereich – zeigt Auswirkungen:
  • Viele B&Bs werden professioneller geführt im Sinne von routinierter. Viele sind mittlerweile eher guesthouses mit etlichen Zimmern. Das, was den Charme der B&Bs ausmachte, dieses halb-private Mitleben in einem Haus, geht dadurch doch leider deutlich verloren.
  • Die Engländer “von heute” sind nicht mehr so kommunikativ wie früher, wo man ständig und an allen Ecken ins Quatschen über Gott und die Welt kam. Das bedaure ich sehr, und das habe ich sehr vermisst. Es kommt sogar vor, dass Gäste eines B&B ohne Gruß in den Frühstücksraum kommen oder ihn so verlassen. Eine elementare Lebensneugier, die ich früher festgestellt habe, ist weg und durch einen leider etwas trüben, leicht depressiven Habitus ersetzt worden. Viele Leute wirken sehr auf sich bezogen und auch vereinsamt.
  • Es gibt mehr Rücksichtslosigkeit auf den Straßen. Vor allem auch Motoradfahrer üben z. T. einen ganz schönen Terror aus.
  • Die Teekultur dieses Landes ist mittlerweile komplett hin. Wer losen Tee trinken oder auch nur kaufen will, ist zunehmend aufgeschmissen. Alles nur noch mit Beutel…
  • Was ich früher nie nie nie gesehen haben (nur einmal in Irland in dieser grässlichen Stadt Limerick): Wühltische in den Läden mit Sachen, die rundum auf dem Boden herumfliegen.
  • Die Leut’ sehen durchweg lieblos und billig gekleidet aus. Ganz ehrlich. Dabei geht es nicht mehr darum, dass die Kleidung skuril und “typisch englisch” ist oder darum, was mir gefällt. Es geht um billig und lieblos. Selbst bei Jugendlichen gibt es kaum eine Tendenz, sich irgendwie zu “stylen” und sei es mit ganz einfachen Mitteln. Jeder durchschnittliche Ruhrgebietler in Jeans und T-Shirt ist dagegen eine Stilikone in Aussehen und Qualität der Kleidung. Das ist kein Vorwurf, sondern natürlich Auswirkung der Krise und auch einer deutlich wahrnehmbaren Perspektivlosigkeit bei Jugendlichen. Ich habe mir bestätigen lassen, dass etliche Leute sich für max. 10 Pfund in Billigläden komplett einkleiden, das Zeug tragen, und wenn es dreckig ist, wegschmeißen und sich entsprechend neu “ausstatten”. Waschen könnte man diese Klamotten eh’ nicht.
  • Viele Leute und erschreckend viele Kinder sind wirklich wahnsinnig dick.
  • Armut ist auf den Straßen viel deutlicher präsent als früher und als bei uns, vor allem die Altersarmut. Wenn ich immer noch wieder Manager höre, die uns England als Beispiel für gelungenes wirtschaftliches Handeln hinstellen und irgendwelche Zahlen herbeten, dann kann ich nur fassungslos auf die Menschen und die Straßen gucken…
  • Es gibt zwar jetzt mehr free view Programme im Fernsehen – aber das Programm ist in allen Kanälen so übersaumäßig schlecht, dass das völlig egal ist.
  • Es wird offiziell davon ausgegangen, dass die swine flu spätestens im nächsten Monat außer Kontrolle gerät. 55.000 neue Fälle gab es allein in der letzten Woche…

Wenn ich das alles so lese, macht das den Eindruck, als ob das Negative alles andere erschlagen würde. Dem ist aber nicht so.
Das Wetter war absolut in Ordnung, die Landschaft ist immer noch z.T. atemberaubend, die Dörfchen niedlich, die Kathedralen bemerkenswert – und die Leute freundlich. Wir werden sicher wieder hinfahren… Es war ein wirklich schöner Urlaub.

Wer Fragen hat zu dem, was England aktuell angeht: gerne her damit. Vielleicht kann ich ja etwas dazu sagen.

 

Erholung

Unterwegs im Urlaub.

Nicht weit weg und doch weit weg von allem.
Plötzlich reicht es, von Balkon und Fenster auf den See zu schauen.
Wasser und Horizont
Kleine Kräuselwellen
Aufleuchten der sterbenden Blätter im Licht der Sonne
Ein paar späte Segelboote
Möwen und Enten in ihrem eigenen Lebensgeheimnis
Sich verlieren im wechselnden Licht
Windstille
Gedankenstille
Dasein genügt
Sieh dort: der Regenbogen umspannt den ganzen See                                               

       

 

Irgendwo und nirgendwo

Unterwegs….

Tatsächlich? Und wohin eigentlich?

Heute war wieder so ein Tag, an dem Unterwegs-Sein etwas Virtuelles an sich zu haben scheint:
Ich habe mich – nicht zum ersten Mal – per Auto hunderte von Kilometern in die eine und dann hunderte Kilometer in die andere Richtung bewegt.
260 Kilometer hin und 260 Kilometer zurück – und wo bin ich gewesen?

In einem Büro.

In einem Büro, das fast so aussieht wie mein eigenes, wenige Kilometer von meiner Wohnung entfernt.
Nach gefahrenen 260 Kilometern habe ich im Innenhof eines großen Gebäudekomplexes geparkt. Dann habe ich drei Stockwerke erklommen, bin zwei lange Gänge entlanggelaufen, habe mich in einem Raum auf einen Stuhl gesetzt, drei Stunden lang an einer Besprechung teilgenommen – und dann das alles rückwärts abgewickelt.
Das war’s.

Das Ganze hatte irgendwie etwas Irreales. Je öfter ich solche Touren mache, desto verrückter kommen sie mir vor. Virtueller.
Wo war ich eigentlich???

Mit Unverständnis reagiere ich auch immer öfter, wenn ich von Urlauben höre, 7 Flugstunden entfernt, 12 Flugstunden entfernt oder wieviel auch immer – und Urlaubsziel ist einmal wieder einer der meist identisch aussehenden Hotelkomplexe an einem Strand mit Swimmingpool und “all inclusive”. Erinnert wird sich nach einem solchen Urlaub später oft nicht an eine Landschaft, an Sehenswürdigkeiten oder spezifische kulturelle Dinge, sondern an Fakten wie: “Das war doch das Hotel, in dem es so oft Nudeln gab” oder “Der Swimmingpool dort hatte eine wirklich tolle Rutsche”. Ob das jetzt in Thailand war oder in Tunesien, hat man dagegen oft schon vergessen

Sinnlose Bewegung.
Bewegung ohne wirkliche Ereignisse.
Bewegung ohne wirkliche Bewegung.

Ach ja, ich war heute übrigens in Darmstadt. Oder war es Frankfurt? Oder vielleicht …?

 

Deko – Schein statt Sein

Unterwegs im Blumencenter:

Es sollte nur ein kleiner Blumenstrauß anlässlich eines Besuches werden, als ich einen großen Blumenmarkt betrat und mich umschaute.

Der Eingang zu einem Weihnachtsmarkt lockte einladend.

Ich folgte dem “Ruf” – und war völlig perplex angesichts dessen, was mich dort erwartete. Ich muss zugeben, so etwas hatte ich wirklich bisher noch nicht erlebt:
Die Ausmaße des Angebotes und der Raumdimensionen für diesen Weihnachtsmarkt übertraf alles, was ich jemals gesehen hatte; man hatte wohl für diesen Zweck mit Fertigbauteilen flugs angebaut.
Ich schlenderte durch Riesenräume – ein jeder ausgestattet nur mit Dingen einer einzigen Farbe. Weihnachtsrausch in Rot, Blau, Silber, Gold, Orange, Violett, sogar in Grün und Braun und Schwarz. Jeder Winkel der Räume war genutzt, selbst die Decken: Ungeheure Mengen von durchaus reizvollen, ja schönen und ungewöhnlichen Dekorationsartikeln, blinkende Lichter überall, weihnachtliche Musik und betörende Gerüche nach Zimt, Tanne und Lebkuchen.
Oberfläche, alles und noch viel mehr für die glanzvolle Oberfläche – eine alle Sinne überfordernde Explosion an Reizen, ein berauschendes Gesamtkunstwerk, ein ungeheures Konsum-Oratorium.

Ich ging durch die Räume mit offenem Mund wie ein staunendes Kind.

Überfülle an Deko statt Fülle des Lebens, statt Intensität der Erwartung.
Je weniger Sein, desto mehr Schein.
Warten? Erwartung?
Hier war kein Platz mehr für Erwartung.
What you see is what you get.
Advent und Weihnachten als Anlass für eine Dekorations-Orgie.
Tod des Gemeinten unter den Menschen…

Aber:
Unberührt davon bleibt das Geheimnis. Das Geheimnis der Heiligen Nacht, das sich jedem offenbart, der sich bereit und in Stille nähert und öffnet. Zeitlos. Gestern, heute und immerdar.

“… und sie gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen. Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie war.
In jener Gegend lagerten Hirten auf freiem Feld und hielten Nachtwache bei ihrer Herde. Da trat der Engel des Herrn zu ihnen, und der Glanz des Herrn umstrahlte sie. Sie fürchteten sich sehr, der Engel aber sagte zu ihnen: Fürchtet euch nicht, denn ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteil werden soll: Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr. Und das soll euch als Zeichen dienen: Ihr werdet ein Kind finden, das, in Windeln gewickelt, in einer Krippe liegt.
Und plötzlich war bei dem Engel ein großes himmlisches Heer, das Gott lobte und sprach: Verherrlicht ist Gott in der Höhe, und auf Erden ist Friede bei den Menschen seiner Gnade.”

 

Berlin Berlin – Kunst und Aktion 2

Noch einmal unterwegs in Berlin 2006:

Eine weitere, völlig unerwartete und verblüffende Kunstbegegnung erlebte ich in der Nähe der Oranienburger Straße.

Auf dem Weg zu den Hackeschen Höfen kam ich an einer Kirche vorbei und warf eher zufällig einen Blick hinein, weil das Portal offen und der Innenraum erleuchtet war.

Ich erstarrte…

… und blickte frontal in die offenen Augenhöhlen eines überdimensional großen, grinsenden Totenschädels.

Sofort trat ich in das Innere des Gebäudes ein und befand mich in einem schönen, sehr sorgfältig restaurierten Kirchenraum, der vollständig leer war – bis auf ein riesiges, 17 m langes, horizontal ausgerichtetes Skelett.

Es war der blanke Schädel dieses Skelettes, der, nach außen grinsend, mich so unerwartet begrüßt hatte und mit offenen Armen empfing.
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Von einem Moment zum anderen war ich völlig herausgerissen aus meinem touristischen Programm und hineinkatapultiert in die existentielle Frage nach Leben und Tod.
Genau das war und ist wohl die Zielrichtung dieser Aktion. Wirklich gelungen!

Interessant war, zu beobachten, wie sich die Besucher, meist genau so durch den Überraschngseffekt an der Tür eingefangen wie ich, in der unerwarteten Situation im Raum mit dem Skelett verhielten. Die meisten verharrten zunächst im Türbereich, wohl um sich erst einmal zu orientieren. Dann begannen sie, sich in den Raum hineinzubewegen und gingen – immer nur um das Skelett herum. Vorsichtige Annäherung – doch die Distanz blieb.

Berührungsangst mit dem Tod

Dabei war es gar kein Problem, sich in die offenen Arme des Gerippes hineinzubewegen, sich in sein Inneres zu begeben, dort zu verharren oder umherzustreunen, mit einem ernsten Grinsen im Gesicht die Rippen des Skeletts zu zählen und sich mit einem kosmischen Lachen dem Memento Mori hinzugeben…

“Hört, hört! Leben und Tod sind ernste Dinge. Schnell vergeht die Zeit. Seid wachsam!”

 

Berlin Berlin – Kunst und Aktion 1

Unterwegs in Berlin 2006:

Was mich in Berlin vor allem auch begeistert hat, ist, dass es dort keine Ungewöhnlichkeit darstellt, an den unerwartesten Orten plötzlich mit Dingen, Kunst und Aktionen konfrontiert zu werden, mit denen man nicht gerechnet hätte, nicht hätte rechnen können.

So z.B. mitten in den Gängen der U-Bahnstation Alexanderplatz.

Plötzlich, im hektischen Hin und Her der Fahrgäste, erlebt man sich konfrontiert mit einem regelrechten Altar, wie man ihn im Fernsehen gelegentlich sieht, wenn ein unerwarteter Todesfall, vor allem eines Kindes, Menschen dazu bewegt, Blumen, Kerzen, Spielzeug, Stofftiere etc. zum Gedenken zusammenzulegen.
Kitschig, bunt, sentimental, übersteigert – aber auch anrührend, so dass man stehenbleibt und schaut, worum es geht.
Genau so.

Dieser Altar, so stellt man allerdings überrascht fest, gilt jemandem, der schon lange tot ist, einer Künstlerin, die sicherlich kaum mehr eine Rolle im Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit spielt: Ingeborg Bachmann.

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Es geht eine eigentümliche Faszination von dieser unterirdischen Szenerie aus. Die gewollte Verfremdung durch die Konfrontation von Dingen, die so gar nicht zusammenpassen, macht aufmerksam: eine solch kitschig-bunte Altarinstallation für eine so spröde Schriftstellerin wie Ingeborg Bachmann – das reizt zum erstaunten Lachen, zum Einspruch, aber macht auch neugierig.

Menschen, die sicherlich von nie von Ingeborg Bachmann gehört haben, halten inne, nehmen sich einige Minuten Zeit, um sich ihren Lebenslauf anzusehen, einem Video zu lauschen, in dem sie mit ihrer extrem monotonen und ausdruckslosen Stimme einen ihrer Texte rezitiert, ein Gedicht zu lesen oder einfach dieses quietschbunte Ensemble zu bestaunen und zu schmunzeln.

In diesem Altar kommt auch Ingeborg Bachmanns berühmestes Gedicht zu Ehren:

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wohin aber gehen wir
ohne sorge sei ohne sorge
wenn es dunkel und wenn es kalt wird
sei ohne sorge
aber
mit musik
was sollen wir tun
heiter und mit musik
und denken
heiter
angesichts eines endes
mit musik
und wohin tragen wir
am besten
unsere fragen und den schauer aller jahre
in die traumwäscherei ohne sorge sei ohne sorge
was aber geschieht
am besten
wenn totenstille
eintritt

Eindeutig: die Menschen, die einen Blick auf diese Kunstinstallation geworfen haben – oder auch mehrere -, gehen anders weiter, als sie zuvor gegangen sind.

Etwas ist geschehen.

Nichts Schönres unter der Sonne, als unter der Sonne zu sein.

Vielleicht haben sie ja diesen Satz gelesen und mitgenommen…

 

Berlin Berlin – Stelenfeld

Unterwegs in Berlin 2006:

Jahrelang andauernd. Unendlich die Diskussion der Argumente pro und kontra:

2005 wurde dann doch das Stelenfeld des Architekten Peter Eisenmann eingeweiht: das Denkmal für die ermordeten Juden Europas.

Es handelt sich um ein Labyrinth aus 2711 grauen Betonstelen unterschiedlicher Höhe: 0,20 m – 4,70 m. Von oben sieht es aus wie ein graues Wellenfeld.

S1Je nachdem, von wo aus man das Feld betrachtet, schaut man über es hinweg auf die futuristische Anlage des Potsdamer Platzes oder aber über die Rückseite des exklusiven Hotels Adlon hin zum Brandenburger Tor und Reichstag.


Ein bemerkenswert fremder Ort in bemerkenswert prominenter Lage.

Verfremdung von Wahrnehmung ist Ziel und Zweck der ungewöhnlichen Anlage, um, jenseits aller informationslastiger Aufklärung, ein Gefühl zu erzeugen, das jenseits aller Normalität liegt: ein Gefühl von Ausgeliefert-Sein, Fremdheit, Isolation, Bedrohung. Der Versuch, für die Augenblicke des Begehens dieses Feldes eine Emotion zu wecken, Stille zu erzeugen und durch die Fremdheit des Erlebens ein Gedenken zu erzwingen an das Unvorstellbare, das 6 Millionen Juden in Europa während des Dritten Reiches erlebt haben.

Beim Besuch des Stelenfeldes soll der Besucher die Stimmen der Opfer hören, das ist Eisenmanns Absicht.

Lässt man sich ein und begibt sich in das Innere des Stelenfeldes, so fühlt man sich schnell verloren, so übermächtig groß werden die grauen Betonmonster. So eng stehen sie beieinander. So dunkel ist es dort trotz des hellen Sonnenscheins außerhalb. Man verliert sich schnell aus den Augen, ist man zu mehreren. Ist schnell allein. Verirrt. Beklommen. Grau. Nebeneinander zu gehen, ist unmöglich. Jeder ist allein. Der Boden ist uneben und erzeugt beim Gehen zusätzlich das Gefühl von Unsicherheit. Trägt er?

Eisenmann hatte eine Vision bei der Gestaltung dieses Mahnmals – und ihm ist es damit gelungen, etwas spürbar zu machen, das reiner Informationsvermittlung nicht gelingen kann, nämlich eine Erlebnisqualität zu erzwingen, die durch die Verfremdung der Wahrnehmung ahnen lässt – wenn natürlich nur von sehr sehr ferne – , was es bedeutet, ausgeliefert zu sein, allein, entfremdet und existentiell bedroht in einer Wirklichkeit, in der die bekannten menschlichen Gesetze keine Gültigkeit mehr haben.