Unter Lehrerkollegen – allein und mit Angst
Vor einigen Tagen führte ich ein Beratungsgespräch mit einer Realschullehrerin, die mich aus einem eher ländlich geprägten Teil NRWs anrief.
Sie hatte in ihrer Realschule zwei vermutlich hochbegabte Kinder ausgemacht, die drohten, “vor die Hunde zu gehen”, wie sie sich ausdrückte. So, wie sie die Situation der Kinder schilderte, war ihre Annahme, dass die beiden in Richtung hoher Begabung / Hochbegabung zumindest tendierten, nachvollziehbar.
Die Lehrerin nun wollte etwas für diese Kinder tun; sie konnte einfach nicht mit ansehen, wie die beiden sich in der Schule quälten, immer größere psychische Probleme bekamen und zudem immer schlechtere Noten schrieben. Einer der beiden droht, sitzenzubleiben.
Die Schule kümmert sich in keiner Weise, will die Kinder einfach nur loswerden und hat die beiden Elternpaare entsprechend instruiert, ihre Kinder irgendwo auf einer Hauptschule anzumelden. Die Eltern sind einfach nur hilflos und ohne Plan.
Die Lehrerin steht in ihrer Wahrnehmung der Kinder völlig allein.
Versuche, ihre Kollegen, die auch in den betreffenden Klassen unterrichten, auf die Problematik der Kinder aufmerksam zu machen, scheiterten nicht nur auf die Sache bezogen, sondern hatten persönliche Konsequenzen: Die Kollegen begannen, hämische Spitzen abzugeben, zu tuscheln, zu verstummen, wenn sie den Raum betrat etc. Die Lehrerin hatte den Eindruck, dass sie einfach nur durch das Ansprechen einer eventuellen Hochbegabung der unerwünschten Schüler zu einer “persona non grata” geworden war, wie sie sich ausdrückte, und dass das Verhalten der Kollegen ihr gegenüber seitdem fast an Mobbing grenzte.
Die Lehrerin will trotz allem die beiden Kinder unterstützen: Sie fragte mich allen Ernstes, was sie denn für die beiden Kinder tun könne, “ohne dass meine Kollegen davon etwas mitbekommen” – und ist hin- und hergerissen zwischen der Sorge um die Kinder und dem Mobbingverhalten der eigenen Lehrerkollegen ihr gegenüber.
Ist das zu fassen?
Matthias Heil schrieb am 12. Juni 2009 um 20:33:
Nein, das ist nicht zu fassen. Sehr traurige Geschichte, die illustriert, was an einigen Schulen in Deutschland schief läuft: Es ist nicht nur gesellschaftlich, sondern in jeder Hinsicht unklug, wenn Schule eher als Verschiebebahnhof denn als Talentschmiede verstanden wird. Dramatisch und tragisch ist es, wenn diese Selbstwahrnehmung bei Kolleginnen und Kollegen mehrheitsfähig wird/bleibt. – Einzige Rettung: Schulwechsel.
speybridge schrieb am 13. Juni 2009 um 09:35:
Tja, wenn das denn mal so einfach wäre: Wohin soll ein schlecht benoteter, auffälliger Realschüler mit vermuteter Hochbegabung wechseln? Selbst wenn die Hochbegabung gesichert wäre, bliebe das Problem; der Test macht da aus unserer Erfahrung kaum einen Unterschied: Gymnasien blocken immer öfter die Aufnahme hochbegabter Underachiever ab, weil ihnen das Ganze zu unbequem, arbeitsintensiv und wenig erfolgversprechend erscheint – obwohl man mit z.T. wenig aufwändigen Mitteln viel erreichen kann bei solchen Kindern. Da verweigern sich die Gymnasien schon bei Gymnasialschülern. Wenn dann da noch so ein schlechter Realschüler daherkommt…
Dazu kommt hier konkret, dass die Eltern nicht besonders aktiv und engagiert sind: in einem Fall zwei Vollverdiener, im anderen eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern, die zusätzlich halt auch berufstätig sein muss. Da bleiben die Kinder auf der Strecke.
Die Lehrerin muss sich auf die Dauer wohl entscheiden, ob sie mit ihren Kollegn zurechtkommen oder die Kinder unterstützen will. Beides wird nicht funktionieren. Eine Möglichkeit wäre es nämlich, sich bei der Bezirksregierung Unterstüzung zu holen. Das funktioniert sogar ab und an. Aber mit ihrer Schule hätte die Lehrerin es dann völlig verscherzt.
Dieser Fall ist nicht untypisch für die Probleme, die auftreten.
Letztens hatte ich es mit einer Klassenlehrerin zu tun, die ein tatsächlich hochbegabtes Kind in Grund und Boden mobbte – und da sie ein Verhältnis mit dem Direktor der Schule hatte, ging gar nichts. Ein Schulwechsel wurde von den beiden gemeinschaftlich zum Scheitern gebracht, da sie alle Schulen in der Umgebung vor dem “unmöglichen” Kind “warnten”.
Manchmal packt man sich echt am Kopf. Als sei das Leben nicht so oft schon kompliziert genug…
1000Sunny schrieb am 26. Juni 2009 um 15:06:
Hallo Speybridge,
ich weiß das ist eine Lösung “non grata” aber wenige Eltern von hochbegabten Kindern nehmen diese aus der Schule und machen Home/Unschooling.
Vielleicht eine Idee.
(Unter http://www.netzwerk-bildungsfreiheit.de gibt es Hilfe)
Lars-Michael Lehmann schrieb am 4. Juli 2009 um 09:55:
Hallo Speybridge,
die Beschreibung zum Thema Hochbegabung im allgemeinen Schulalltag ist eine leider sehr typische Umschreibung. In der Praxis erlebe ich es auch bei Schülern mit Legasthenie – da wird es sehr oft noch um einiges Schwieriger.
Denn Lehrern kann man oft nicht den Vorwurf machen, da sie kaum eine Ausbildung für dieses Feld haben um sich diesen Schülern pädagogisch Widmen zu können.