Wer nicht “Ich” ist, der ist nicht!
Die Sprechstunde – Schulblog eines Lehrers macht auf einen äußerst aufschlussreichen Bericht der ZEIT aufmerksam, “Die verlorene soziale Stimme” – ein Interview mit dem Kinder- und Jugendpsychlogen Wolfgang Bergmann.
In diesem Artikel geht es, nach Geschehnissen wie dem tödlichen Holzklotz-Wurf von einer Autobahnbrücke, um die Situation von Kindern und Jugendlichen, die oft anscheinend zu Empathie bzw. überhaupt der Wahrnehmung anderer Menschen und ihres Wertes nicht mehr in der Lage sind.
“Die soziale Stimme ist nicht mehr verinnerlicht. … Diesen Abschied vom Gewissen beobachten wir seit zehn, fünfzehn Jahren mit wachsender Intensität. Mir berichten nicht nur Therapeuten, sondern auch Grundschullehrer: Wir haben immer mehr Kinder, die wir nicht erreichen, als könnte man sie im Innersten nicht mehr berühren. Die Kinder denken, die ganze Welt müsste ihnen zur Verfügung stehen und gleichzeitig haben sie das Gefühl: Ich bin nichts wert. Dies ist die Entwicklung, die sich in einer solchen, sehr dramatischen Situation als Symptom zeigt.”
Bergmann zu den Gründen: “Ich kann dazu drei Punkte nennen. Erstens liegt es an der modernen Kleinfamilie, die eine Harmoniegemeinschaft ist. Kinder werden zu sehr verwöhnt, aber zu wenig geliebt. Lieben kann man nie zu viel. Starkes Verwöhnen bewirkt aber, dass sich Kinder allmächtig fühlen, ihre Grenzen nicht kennen.
Zweitens werden die Kinder bereits im Kindergarten, spätestens in der Grundschule in ein radikales Rivalitätsdenken gedrängt. Das geht mit solchen, scheinbar harmlosen Bemerkungen los: „Schau mal, die Anna malt aber viel schönere Blumen als du“. Die beiden Punkte zusammen führen zu dem Konflikt, einerseits extremen Leistungsdruck und die Angst vor dem Scheitern zu empfinden, andererseits ständig zu denken: „Ich bin der Tollste“.
Als Drittes kommt die moderne Medienwelt hinzu: Noch nie gab es Kinder, die so gefüttert wurden mit Glücksversprechen. Das Ich-Ideal muss sich an all den Superstars und Supermodels orientieren. Es geht darum zu agieren, als wäre man allmächtig, ein junger Gott. Die Realität ist dagegen unattraktiv. Ein guter Mathematikunterricht ist nichts im Vergleich der Möglichkeiten vom Internetspiel „World of Warcraft“. “
“Eigentlich bildet sich die Identität so: Ich interessiere mich für den anderen, weil er mich widerspiegelt. „Ich bin, weil du bist“ – das ist ein, wie ich finde, kluges Sprichwort. Umgekehrt hat das auch funktioniert: Wenn ich einem anderen Schmerz zufüge, fühle ich selbst welchen. Das ist heute nicht mehr so. Statt dessen geht es um die Selbstidolisierung. Rücksicht auf andere Menschen hat dabei keinen Platz mehr. Viele Kinder und Jugendliche sehen den Schmerz oder das Leid anderer nicht. Man nimmt den anderen nur noch verschwommen wahr.”
Hier etwas zu verändern, ist keine Sache von sachlicher Aufklärung und Information. Man weiß doch auch von Therapien, dass die pure Einsicht – und sei sie noch so klar – neurotische Symptome nicht zum Verschwinden bringt und keinen Menschen verändert.
Diese Tatsache wird auch im Interview deutlich:
“Aufklärung, vernünftige Informationen – vor 50 Jahren hätte das gewirkt, bei den modernen Kindern tut es das nicht. Ähnliches gilt übrigens auch für die Programme zur Gewaltprophylaxe durch Belehrung und Verhaltenstrainings – das beruhigt die Erwachsenen, bewirkt aber nichts. Diese Programme zeigen nur den funktionalen Geist moderner Pädagogik: Pures so tun als ob.”
Wirkliches, authentisches Erleben ist gefragt. Erleben aus erster Hand. Wahrnehmen. Spüren. Fühlen. Freude und Schmerz und Versagen und Gelingen und Anerkennung und Zurückweisung, Fülle und Verzicht.
Und vor allem wirkliche Liebe – jenseits von Verwöhnung, Überfürsorge, egoistischer Ich-Erweiterung der Eltern.
Wer aber führt diese Kinder und Jugendlichen in das LEBEN ein?
Ich gestehe: Mein Optimismus hält sich diesbezüglich in Grenzen.
Igor schrieb am 3. April 2008 um 16:26:
Ich kann verstehen das Jugendliche ihre “Mutproben” brauchen und auch vor dem andern Geschlecht angeben wollen. ABER gibt es da nicht ein inneres Rechtsempfinden, ein Gefühl das sagt das sowas nicht geht und nicht richtig ist?
Oder habe ich da ein zu einfaches Denken?
Igor
speybridge schrieb am 3. April 2008 um 16:38:
Nein, das Denken ist völlig o.k., aber das gibt es eben oft nicht mehr, dieses “innere Rechtsempfinden”. Das ist das große Problem.
Davon handelt der Artikel.
speybridge