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Schule “um die Ecke” versus ideologische Elternansprüche

In der ZEIT, habe ich eben gesehen, gibt es etliche Artikel zur Einschulung, die ja nun mit und mit in allen Bundesländern ansteht.

Einer dieser Artikel hat mich zum Lachen gebracht, weil in ihm die Übermotivation von Eltern so wunderbar karikiert wird.
Wir wollen ja nur Dein Bestes heißt der Beitrag mit der weiteren Überschrift: “Waldorf? Öffentlich? International? Oder gleich katholisch? Wie die Suche nach der perfekten Grundschule eine ganze Elterngeneration in Panik versetzt.”

Ich gestehe, dass ich bekennender Fan der “Schule um die Ecke” bin, wann immer das sinnvoll möglich ist.
Das geht nicht immer, natürlich nicht. Es gibt Schulen, da passt es einfach nicht.
Aber oft sind es rein die “exklusiven” Ansprüche von Eltern und nicht die Qualität der nächstgelegenen Schule, die alles – auch für das Kind – verkomplizieren.

Für alle, auch für hochbegabte, Schüler, halte ich jedoch folgende Erfahrungen für viel wichtiger als alles andere:
– Alleine oder mit Freund/Freundin oder in Grüppchen regelmäßig zur Schule gehen zu können – allein und selbstständig
– Nachmittags drei Ecken weiter mit Freunden spielen zu können, ohne dass Muttern wieder einen komplizierten und zeitfressenden Fahrdienst leisten muss
– Ein Gefühl für die Umgebung zu bekommen, Orientierung, Vertrautheit
– Sich wohl zu fühlen in seiner Klasse

Wenn das “um die Ecke” in einer vernünftigen Grundschule funktioniert, dann ist das für Kinder sinnvoller, in diese zu gehen, als täglich in eine Schule mit einer irgendwie ideologischen Ausrichtung fahren zu müssen, die vielleicht die Ansprüche der Eltern befriedigt, die Kinder aber sehr früh in einen entfremdeten, aufwändigen Terminplan zwängt.

Eltern verwechseln leider immer öfter “Kindeswohl” mit ihren eigenen Bedürfnissen und Ansprüchen.
Nicht nur bei der Wahl der Schule.

 

Lob der Grundschule

Rechtzeitig zur Einschulung in der nächsten Woche erscheint in der ZEIT ein Bericht über die Qualitäten der Grundschulen unter dem Titel: Die beste Zeit des Lebens.

Die ZEIT singt in ihrem Artikel ein Loblied der Grundschule:
“Keine andere Schulform ist moderner und kinderfreundlicher als die Grundschule … Eltern erkennen die Grundschule ihrer Kindheit heute kaum noch wieder. … Bildungsforscher stellen der Grundschule ein gutes Zeugnis aus. Unter den verschiedenen Schulformen gilt sie sogar als der Klassenprimus, und zwar unabhängig davon, welchen Maßstab man anlegt.”

Auch aus meiner Sicht, die ich seit vielen Jahre vor allem die Belange hochbegabter Kinder im Fokus habe, kann gesagt werden, dass sich im Bereich der Grundschule tatsächlich am meisten bewegt hat in den letzten Jahren. Experimentierfreude, pfiffige Lehrmaterialien, schöne Projekte und neue Konzepte, wie z. B. das schuljahrübergreifende Unterrichten (das ich allerdings selbst Anfang der Sechziger auch schon genossen habe), sind nirgendwo so ausgeprägt wie in den Grundschulen.
Auch im Bereich der Hochbegabung gibt es dort beeindruckende Fortschritte und Projekte. In Essen z.B. sind über drei Jahre lang Lehrer mehrerer Grundschulen systematisch im Bereich Hochbegabung fortgebildet worden, um in einem zweiten Schritt als Multiplikatoren für andere Schulen dienen zu können.

Auch in den Grundschulen ist natürlich nicht alles Gold, was glänzt. Auch von Projektschulen in Essen habe ich negative Erfahrungen berichtet bekommen. Nicht immer passt alles zusammen.

Da ich mir aber abgewöhnt habe, alles immer nur in düsterem Licht zu sehen, bin ich dankbar für all die vielen Fortschritte, die es eben auch zu beobachten gibt – in den Schulen allgemein und auch im Umgang mit hochbegabten Schülern.

Sehr starr allerdings erlebe ich nach wie vor viele weiterführenden Schulen, wobei – aus Not vielleicht – die Hauptschulen mir oft noch am kreativsten erscheinen.
Realschulen und Gymnasien allerdings ruhen sich für mein Empfinden immer noch viel zu sehr auf ihren althergebrachten Strukturen und konventionellen Unterrichtsmethoden aus.
Davon profitiert eigentlich niemand wirklich, es ist zu nichts richtig gut und hat zudem zur Konsequenz, dass der status quo auch in Hinsicht auf soziale Auslese immer weiter fortgeführt wird.

Ich habe es in den letzten ein/zwei Jahren so oft wie nie zuvor erlebt, dass hochbegabte Kinder auf ihrer Grundschule glücklich waren, weil sie z.T. selbstorganisiert Lernen gestalten konnten, auf dem Gymnasium aber schnell psychisch und leistungsmäßig abstürzten, weil dort alles Lernen nur im “Gleichschritt MarschMarsch” zu haben war.
So etwas ist natürlich tragisch, spricht zum einen auch wieder für die verbreitet neue Qualität der Grundschulen, aber eben auch gegen die oft vermuffte Atmosphäre in Gymnasien.

Ein bisschen Aufbruchstimmung auch dort wäre sehr wünschenswert.

 

Wenn Lehrer zu gut sind – Der Gipfel der Absurdität

Sabine hat mich in einem Beitrag ihres Hochbegabtenblogs und in einem Kommentar bei mir darauf aufmerksam gemacht, dass die Geschichte der bayrischen Grundschullehrerin, die ich im vorangehenden Beitrag aufgegriffen hatte, nun eine absurde Fortsetzung gefunden hat:

Die Lehrerin S. Czerny ist wegen Störung des Schulfriedens an eine andere Schule zwangsversetzt worden. Davon berichtet die TAZ.

“Zum Wohle aller” – wie die zuständige Schulrätin Henriette Lemnitzer äußerte.

Nicht zu fassen!

“Nicht erst seit der Veröffentlichung des Falls vor einer Woche hatte die 36 Jahre alte Pädagogin, die seit über zehn Jahren unterrichtet, derartige Vorwürfe zu hören bekommen, sondern schon zu Beginn des Jahres. Da hatten ihre Kinder in mehreren klassenübergreifenden, vergleichenden Arbeiten Einser-Notenschnitte erzielt. Czerny hatte sich durch die Schulleiterin genötigt gesehen, die Notenschnitte der Gauß’schen Normalverteilung anzupassen – damit etwa gleich wenige Kinder aus allen drei vierten Klassen auf höhere Schulen wechseln würden.”

Die Eltern wollen in seltener Geschlossenheit gegen Vorwürfe und Versetzung angehen:
“Die Eltern ihrer ehemaligen vierten Klasse wollen sich derweil in einem offenen Brief geschlossen an das Schulamt, den bayerischen Kultusminister Siegfried Schneider sowie Bundes-Bildungsministerin Annette Schavan wenden, um auf die grundsätzlichen Missstände aufmerksam zu machen. Darin heißt es unter anderem: ‘Wir Eltern haben mit Staunen wahrgenommen, wie sich unter der Arbeit von Frau Czerny das Arbeitsverhalten unserer Kinder verbessert hat: Sie lernen gerne, sie wollen wissen und entdecken und sind mit Feuereifer bei der Sache.’

Die Kinder lernen gerne, haben ein besseres Arbeitsverhalten und sind mit Feuereifer dabei…

Ja, so etwas muss man wirklich unterbinden. Wo kämen wir hin, wenn gute Lehrer einfach ihre Arbeit tun dürften und Kinder Freude am Lernen hätten…

 

Wenn Lehrer zu gut sind…

…dann passieren abenteuerliche Dinge, z. B. dass sie amtlicherseits aufgefordert werden, sich an das Niveau um sie herum anzupassen.

Eltern hatten sich beschwert, dass in der Klasse einer Lehrerin sowohl das Niveau als auch die Noten (beides!!) besser waren als in der Klasse ihrer eigenen Kinder.

So geschehen in Bayern, wo ein Schulrat daraufhin die sehr erfolgreiche und auch noch beliebte Lehrerin offiziell aufforderte, schlechter zu arbeiten.

Das ist nicht zu glauben, aber wahr.

So wird das nie was mit der Reform unseres Schulsystems!!

Ich wollte eigentlich einen eigenen Beitrag zu dieser Absurdität schreiben, verweise aber, weil dort schon alles klipp und klar steht, auf den entsprechenden Beitrag beim Weltenkreuzer.

 

Überbehütung: verwöhnt, verhätschelt – lebensunfähig

Hin und wieder setzte ich mich an einen zentralen Platz in einem Einkaufszentrum oder einer anderen frequentierten Stelle und beobachte die Leut’. Das pralle Leben sozusagen.
Mein besonderes Interesse gilt dabei dem Umgang von Eltern mit ihren Kindern. Bei dem, was ich da sehe, sträuben sich mir oft die Haare.

Jüngstes Beispiel von gestern:
Einzelnes Kind im Buggy angeschnallt, mindestens 3 Jahre alt (muss ein 3-Jähriger noch im Buggy gefahren werden?), schreit. Der Junge ist augenscheinlich einfach sauer, weil er sich nicht frei bewegen und laufen darf, und schreit und brüllt, während er vergebens versucht, sich aus seinem Buggy zu befreien. Mutter gibt dem Kind besorgt ein Trinkpäckchen. Junge schmeißt es wütend in die Gegend. “Wenn du Orange nicht magst, ich habe noch ein Päckchen Apfel”, sagt darauf die Mutter, nachdem sie das Trinkpäckchen Orange eingesammelt und entsorgt hat, und gibt dem Jungen das Trinkpäckchen Apfel. Der aber schreit weiter und wirft dieses Päckchen wie das vorherige kommentarlos in die Gegend. Mutter hebt auch dieses auf und sagt: “Da drüben ist ein Supermarkt. Die haben auch noch Wildkirsche.” Das interessiert den Jungen nicht die Bohne. Er will raus aus dem Buggy und laufen; mit aller Macht zerrt er an seinem Wagen. Die Mutter: “Du bleibst drin in Deinem Buggy, sonst fällst du gleich beim Laufen und dann brüllst du. Wir kaufen dir jetzt ein Päckchen Wildkirsche. Das magst du bestimmt.”

Diese Situation zeigt in wunderbar (?) absurder Weise, wie ein Kind als Ersatz für das Ausleben eines normalen Lebensausdruckes, nämlich des elementaren Laufens, sinnlose Ersatzbefriedigungen angeboten bekommt mit der Begründung, es liege Verletzungsgefahr vor. Nicht nur, dass das Kind total überflüssige Kalorien zu sich nehmen soll, es wird auch noch daran gehindert, selbstständig zu werden, seine Motorik auszubilden und zu trainieren.
Wundern einen da Fehlentwicklungen bei Kindern von Übergewicht über Ungeschicklichkeit und Konzentrationsstörungen bis hin zu AD(H)S?

Kein Einzelfall

 

 

I have a dream

Meine Sommerpause und die des Blogs: vorbei, vorbei, vorbei. Dazu bald mehr.

Hier nun als erstes wieder einmal ein Beispiel dafür, dass es möglich ist, in einem lebendigen Umfeld alle Schüler zu erreichen und zu fördern:

“Marion Beckmann bereitet ihre Lateinstunden für verschiedene Schwierigkeitsniveaus vor, ‘wenn ich den Unterricht undifferenziert durchziehe, bringt das weder den guten noch den schlechten Schülern was’. Im Unterricht versuche sie, den Stoff auf verschiedenen Schwierigkeitsniveaus zu vermitteln. Auf Unterstützung für die schwachen Schüler und individuelle Förderung komme es dabei an, erklärt Beckmann. Zu vielen der mehr als 2000 Schüler habe sie guten Kontakt.”

Das war ein Ausschnitt aus dem SZ-Bericht: “Alle kommen ans Ziel”.
Mehr davon hier.

Bitte mehr davon…

 

Immer neue Symptome derselben einen Misere

Seien es überfüllte Klasse, Klagen darüber, dass eine zu frühe Selektion der Schüler in die weiterführenden Schulen erfolgt oder über Benachteiligung aus sozialen oder migrationsbedingten Gründen, über die vielen Sitzenbleiber oder über die “Unfähigkeit” von Lehrern, die hohe Schulabbrecherquote, die phantasielose, unsinnige Umsetzung des Abiturs nach 12 Jahren, die mangelnde Qualität der Abschlüsse und des internationalen Rankings – es hat einfach keinen Sinn mehr (und ich spüre eher Resignation als Aufbruchstimmung), immer neue Symptome aufzulisten, hin und her zu analysieren, hier und da etwas am Schulsystem herumzudoktern und zu hoffen – ja: worauf denn?

Unser Schulsystem ist starr – und niemand kommt darin wirklich zu seinem Recht: weder der sozial Benachteiligte noch der Hochbegabte, weder Kinder aus Migrationsfamilien noch Kinder mit welcher Besonderheit auch immer.

Ich frage mich immer öfter, für wen denn überhaupt der Unterricht von heute eigentlich noch passgenau sein könnte…
Any idea??

Die Forderung und der Ruf, vor allem auch in NRW, nach “individueller Förderung” sind genauso richtig wie hilflos. Denn genau das gibt es nicht: individuelle Förderung.
Weder für die Schlechten noch für die Guten.

Der Artikel der Süddeutschen Verlierer von Geburt an bringt wieder einen der Aspekte der Misere in Wort und Bewusstsein, einen von vielen.

“Inzwischen prangern die eigentlich nicht zuständigen Bundespolitiker immer häufiger die Untätigkeit der Länder an. Der Bund selbst hat praktisch keine Bildungskompetenzen mehr. Er kann den Kindern in der Regel erst dann helfen, wenn es längst zu spät ist: nach der Schule.”

All das, was das Schulsystem angeht, ist starr und tot und bräuchte eine totale Revolution, in den Köpfen der Beteiligten und konkret in jeder Schule:
“Das kostet viel Geld. Aber es kommt später noch teurer, wenn dies alles nicht getan wird.”

So ist das. Aber selbst der Hinweis aufs Finanzielle wird nichts nutzen.

 

Es ist nie zu spät!

In einem Artikel der ZEIT fand ich einen Beitrag, in dem es um die Kehrtwendung einer Grundschullehrein in ihrem Unterrichtsverhalten geht.

“Monika Kaiser-Haas war seit 21 Jahren Lehrerin und unterrichtete an der Ludgerus-Grundschule in Hiltrup, einem Stadtteil von Münster, als ihr klar wurde, dass sie all die Jahre etwas falsch gemacht hatte. Und zwar grundlegend. Ein ständig unaufmerksamer und renitenter Zweitklässler hatte sie darauf gebracht. Nachdem er mit seinen Eltern Cape Canaveral besucht hatte, hielt er vor der Klasse einen einstündigen Vortrag über Luft- und Raumfahrttechnik. »Als ich ihm so zuhörte, habe ich meine ganze pädagogische Arbeit hinterfragt«, sagt Monika Kaiser-Haas. Sie kam zu dem Schluss, dass sie mit ihrem Unterricht die Fähigkeiten des hochbegabten Schülers unterdrückt hatte. »An seiner Aufmüpfigkeit war nicht er schuld, sondern ich.« Das war 1997.
Monika Kaiser-Haas begann, Begabte zu fördern. Sie gab ihnen anspruchsvolle Aufgaben und setzte sich dafür ein, dass besonders gute Schüler eine Klasse überspringen konnten. Vor zehn Jahren war sie damit an ihrer Schule noch eine Exotin – heute kann sich die 59-Jährige als Vorreiterin betrachten. …
Dabei lässt sie viel Freiraum. Da kann sich zum Beispiel der zehnjährige Jan zwischendurch an den Laptop seiner Lehrerin setzen und ein bisschen mit einem Grafikprogramm herumspielen. Nach einer Viertelstunde hat er eine Figur gezeichnet, die deutlich als römischer Legionär erkennbar ist. »Oh, das ist toll. Speicher das mal«, sagt Monika Kaiser-Haas.
Sie könnte sich auch darüber aufregen, dass ein Schüler ihren Computer benutzt, ohne sie zu fragen. Viele Lehrer würden das tun. Doch viele Lehrer werden auch nicht verstehen, wie man nach vielen Jahren im Beruf auf die Idee kommen kann, seinen bisherigen Unterrichtsstil infrage zu stellen.
Der siebenjährige Luft- und Raumfahrtexperte von damals hatte für Monika Kaiser-Haas am Ende der vierten Klasse übrigens noch ein Buch geschrieben, nur für sie. Darüber, wie sie den Mathe-Unterricht für Begabte wie ihn in Zukunft etwas interessanter gestalten könne. Das Buch, sagt sie, benutzt sie noch heute.”

Nachahmung erwünscht.

 

Wer nicht “Ich” ist, der ist nicht!

Die Sprechstunde – Schulblog eines Lehrers macht auf einen äußerst aufschlussreichen Bericht der ZEIT aufmerksam, “Die verlorene soziale Stimme” – ein Interview mit dem Kinder- und Jugendpsychlogen Wolfgang Bergmann.

In diesem Artikel geht es, nach Geschehnissen wie dem tödlichen Holzklotz-Wurf von einer Autobahnbrücke, um die Situation von Kindern und Jugendlichen, die oft anscheinend zu Empathie bzw. überhaupt der Wahrnehmung anderer Menschen und ihres Wertes nicht mehr in der Lage sind.

“Die soziale Stimme ist nicht mehr verinnerlicht. … Diesen Abschied vom Gewissen beobachten wir seit zehn, fünfzehn Jahren mit wachsender Intensität. Mir berichten nicht nur Therapeuten, sondern auch Grundschullehrer: Wir haben immer mehr Kinder, die wir nicht erreichen, als könnte man sie im Innersten nicht mehr berühren. Die Kinder denken, die ganze Welt müsste ihnen zur Verfügung stehen und gleichzeitig haben sie das Gefühl: Ich bin nichts wert. Dies ist die Entwicklung, die sich in einer solchen, sehr dramatischen Situation als Symptom zeigt.”

Bergmann zu den Gründen: “Ich kann dazu drei Punkte nennen. Erstens liegt es an der modernen Kleinfamilie, die eine Harmoniegemeinschaft ist. Kinder werden zu sehr verwöhnt, aber zu wenig geliebt. Lieben kann man nie zu viel. Starkes Verwöhnen bewirkt aber, dass sich Kinder allmächtig fühlen, ihre Grenzen nicht kennen.
Zweitens werden die Kinder bereits im Kindergarten, spätestens in der Grundschule in ein radikales Rivalitätsdenken gedrängt. Das geht mit solchen, scheinbar harmlosen Bemerkungen los: „Schau mal, die Anna malt aber viel schönere Blumen als du“. Die beiden Punkte zusammen führen zu dem Konflikt, einerseits extremen Leistungsdruck und die Angst vor dem Scheitern zu empfinden, andererseits ständig zu denken: „Ich bin der Tollste“.
Als Drittes kommt die moderne Medienwelt hinzu: Noch nie gab es Kinder, die so gefüttert wurden mit Glücksversprechen. Das Ich-Ideal muss sich an all den Superstars und Supermodels orientieren. Es geht darum zu agieren, als wäre man allmächtig, ein junger Gott. Die Realität ist dagegen unattraktiv. Ein guter Mathematikunterricht ist nichts im Vergleich der Möglichkeiten vom Internetspiel „World of Warcraft“. “

“Eigentlich bildet sich die Identität so: Ich interessiere mich für den anderen, weil er mich widerspiegelt. „Ich bin, weil du bist“ – das ist ein, wie ich finde, kluges Sprichwort. Umgekehrt hat das auch funktioniert: Wenn ich einem anderen Schmerz zufüge, fühle ich selbst welchen. Das ist heute nicht mehr so. Statt dessen geht es um die Selbstidolisierung. Rücksicht auf andere Menschen hat dabei keinen Platz mehr. Viele Kinder und Jugendliche sehen den Schmerz oder das Leid anderer nicht. Man nimmt den anderen nur noch verschwommen wahr.”

Hier etwas zu verändern, ist keine Sache von sachlicher Aufklärung und Information. Man weiß doch auch von Therapien, dass die pure Einsicht – und sei sie noch so klar – neurotische Symptome nicht zum Verschwinden bringt und keinen Menschen verändert.
Diese Tatsache wird auch im Interview deutlich:
“Aufklärung, vernünftige Informationen – vor 50 Jahren hätte das gewirkt, bei den modernen Kindern tut es das nicht. Ähnliches gilt übrigens auch für die Programme zur Gewaltprophylaxe durch Belehrung und Verhaltenstrainings – das beruhigt die Erwachsenen, bewirkt aber nichts. Diese Programme zeigen nur den funktionalen Geist moderner Pädagogik: Pures so tun als ob.”

Wirkliches, authentisches Erleben ist gefragt. Erleben aus erster Hand. Wahrnehmen. Spüren. Fühlen. Freude und Schmerz und Versagen und Gelingen und Anerkennung und Zurückweisung, Fülle und Verzicht.
Und vor allem wirkliche Liebe – jenseits von Verwöhnung, Überfürsorge, egoistischer Ich-Erweiterung der Eltern.

Wer aber führt diese Kinder und Jugendlichen in das LEBEN ein?

Ich gestehe: Mein Optimismus hält sich diesbezüglich in Grenzen.

 

Ich bin’s leid…

Ja, gibt’s denn heutzutage nur noch Opfer?

Eltern leiden unter Stress, Kinder leiden unter Stress und Lehrer leiden unter Stress.

Ist denn niemand glücklich hier?

Wenigstens ein bisschen?