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Und wieder: Hochbegabung = Sorge = Krankheit

Es mag ja sinnvoll sein, Internetplattformen einzurichten wie jetzt neu die Sorgenkids. Und es mag ja auch sein, dass ich überempfindlich bin. Aber beim Lesen der Einladung auf dieses Forum bei unternehmen praxis sträuben sich bei mir wieder alle Nackenhaare.

So fängt es schon an: “Eltern, deren Kinder von einer gesundheitlichen Einschränkung betroffen sind, können sich über das neue Internetforum www.sorgenkids.de austauschen und Expertenrat bekommen.”

Und dann: “Kinderkrankheiten, Allergien, Unverträglichkeiten, Gewichtsprobleme oder orthopädische Leiden ebenso besprochen wie Hochbegabung, ADHS, psychische Erkrankungen oder Entwicklungsstörungen. Auch chronische, lebensbedrohliche oder -verkürzende Krankheiten gehören zu den Themen.”

Hilfe!! Mein Kind ist krank!! Es hat mehr Potenzial als die anderen!!

Gifted children” heißen hochbegabte Kinder im englischsprachigen Raum: “Beschenkte Kinder”, simpel übersetzt.
Bei uns sind sie krank oder werden krank gemacht. Sind ein Problem, das man in solchen Foren zwischen Masern und Bulimie wälzen muss.

Natürlich gibt es Probleme bei Hochbegabung. Aber in den allermeisten Fällen sind nicht die hochbegabten Kinder das Problem, sondern die “Normalen”, die in ihrer Engstirnigkeit nicht in der Lage sind, über ihren Tellerrand zu blicken und so diese Kinder oft in eine Enge pressen, in der man tatsächlich krank werden kann. Es verlangt niemand von der Mehrheit der “Normalen”, Hochbegabte unbedingt verstehen zu können. Hochbegabten jedoch ein Minimum an menschlichem Respekt und Existenzberechtigung zuzusprechen, das kann erwartet werden. Dazu gehört auch ein Fordern und Fördern, das ihnen entspricht, aber jedenfalls und absolut und überhaupt und ganz und gar nicht, sie zu “Sorgenkids” zu machen!

Ich zitier’ mich hier mal selbst:
”Seit vielen Jahren gehe ich nun mit dem Thema Hochbegabung um. Es gibt doch immer wieder noch etwas, worüber ich nur den Kopf schütteln kann:
Mutter: ‘Mein Sohn hatte Schwierigkeiten. Da haben wir ihn vor ein paar Jahren testen lassen. Er war hochbegabt. … Jetzt ist er immer noch hochbegabt. Können Sie mir nicht ein Medikament nennen, damit das endlich verschwindet?’
Man stelle sich vor: Die Mutter von Boris Becker geht zum Arzt: ‘Herr Doktor, können Sie mir nicht für mein Bobbele eine Pille geben, damit er nicht mehr so gut Tennis spielen kann?’”

“Die Dummheit ist die sonderbarste aller Krankheiten. Der Kranke leidet niemals unter ihr. Aber die anderen leiden.”  (Paul-Henry Spark).

 

31 Kommentare zu “Und wieder: Hochbegabung = Sorge = Krankheit”

  1. Kerstin Schulte schrieb am 22. Oktober 2010 um 14:35: 

    Sehr geehrte Frau Hausen-Müller,

    ich habe das Sorgenkids-Forum ins Leben gerufen und bin gerade über Ihren Beitrag gestolpert.
    Das Thema Hochbegabung habe ich aufgenommen, weil sich viele Eltern nach wie vor den Kopf zerbrechen, wie sie mit ihrem hochbegabten Kind und/oder dem “Drumherum” umgehen sollen. Ich möchte diesen Eltern und anderen Angehörigen von überdurchschnittlich begabten Kindern einen Raum bieten, sich Luft zu machen, Hilfe und Unterstützung zu finden und sich auszutauschen – über ihre Sorgen, die sie zweifelsfrei häufig haben. Auch wenn das Thema der Hochbegabung eigentlich kein sorgenvolles sein sollte. Sorge bereitet es dennoch oft – nicht nur im Kontext des “Sorgen machens”, sondern auch in dem des “sich sorgens”, des sich kümmerns.
    Ich sehe ein, dass die Formulierung missverständlich ausgefallen ist und die Hochbegabung nicht in einem Zug mit Erkrankungen oder Behinderungen genannt werden sollte – auch wenn manche Kinder oder ihre Eltern im Umgang mit dem Thema vielleicht manchmal von Bürokratie, Lehrkräften o.a. “behindert” werden.

    Nicht schön finde ich das Zitat am Ende Ihres Beitrages – und hoffe, dass es nicht auch auf meine Person gemünzt ist.

    Mit freundlichem Gruß,
    Kerstin Schulte

  2. speybridge schrieb am 22. Oktober 2010 um 15:23: 

    Worüber ich mich – und der aktuelle Beitrag ist ja nur einer von etlichen, die ich schon im Blog erwähnt habe – immer wieder ärgere, das ist das undifferenzierte und unreflektierte Vermischen der Hochbegabung mit therapiebedürftigen Krankheiten. Der einzige gemeinsame Nenner dieser “Dinge” ist aber, dass sie Eltern Sorgen machen können. Hier ist aber nicht das Kind therapiebedürftig (meist jedenfalls nicht), sondern oft die Umgebung – also genau andersherum als bei Krankheiten.
    Hochbegabung ist eh’ schon ein immer noch schwieriges und tabubehaftetes Thema. Es immer wieder mitten in engster Verbindung mit Krankheit zu finden, rückt die Kinder, die sich durch ein besonders hohes Potenzial auszeichnen, in die Nähe einer Therapiebedürftigkeit – was nicht hilfreich ist. Es hat selbst Ärztekongresse gegeben, die diese Vermischung betrieben haben.

    Natürlich sind Sie nicht mit diesem Zitat gemeint, ich weiß ja gar nichts von Ihnen. Ihre Plattform war ja nur der Ausgangspunkt für das, was ich dann geschrieben habe. Aber ich stehe zu diesem Zitat, auch wenn es hart klingt. Sowohl ein Schuldirektor, der sagt, dass es an seiner Schule noch niemals einen Hochbegabten gegeben habe, fällt für mich darunter, wie auch z. B. eine Kindergärtnerin, die zu einem Fünfjährigen sagt, er solle alles wieder vergessen, was er weiß, wie auch ein Lehrer, der meint, dass, wenn ein Kind hochbegabt sei, es ihm ja auch kein Problem bereiten dürfte, sich anzupassen etc. Es gibt viele davon, wirklich viele – zu viele. Und sie können hochbegabten Kindern (und ihren Eltern) die Hölle auf Erden bereiten.

    Mit freundlichem Gruß
    speybridge

  3. Kerstin Schulte schrieb am 26. Oktober 2010 um 09:05: 

    Ich finde Ihre Position völlig verständlich und kann Ihren Ärger nachvollziehen. Als ich zur Schule ging, war Hochbegabung in den Lehrerzimmern kaum ein Thema und hat mir so mein Schülerinnen-Leben schwer gemacht.
    Ich nehme Ihren Artikel zum Anlass, das Thema der Hochbegabung in der nächsten Presseinfo anders unterzubringen und auch im Forum die Texte so zu verändern, dass es nicht mehr den Anschein macht, hochbegabte Kinder bräuchten einen Therapeuten.

    Viele Grüße,
    Kerstin Schulte

  4. speybridge schrieb am 26. Oktober 2010 um 09:24: 

    Das finde ich nett und der Sache sicherlich förderlich.

    Selbst erlebt (und auch schonmal in einem Blogbeitrag verarbeitet) folgende Begebenheit, die dazu passt:

    “Vor etlichen Jahren ist mein Sohn, damals kurz vor dem Abitur, einmal eingeladen worden, auf einem Ärztekongress einen Vortrag zu halten und das “Phänomen” Hochbegabung aus seiner Erfahrungswelt heraus zu schildern. Der Ärztekongress stand unter dem Thema “Autismus, Asperger Syndrom und Hochbegabung”. Ich habe meinen Sohn damals – und tue es heute immer noch – für seine Souveränität bewundert, die er mit seinen 17 Jahren hatte: Er stellte sich auf das Podium vor das Mikrofon und sagte in den Raum voller “Kapazitäten” hinein, dass er sich wundern würde, Hochbegabung hier im Zusammenhang mit zwei Störungen, die der Therapie bedürften, diskutiert zu sehen. Er würde nun gerne wissen, welches Ziel denn eine Therapie bei ihm als Hochbegabtem bzw. bei Hochbegabung allgemein haben könnte.
    Eine Heranführung an “Normalität”?
    Eine Angleichung an Normalität”?
    Eine Reduzierung auf “Normalität”?
    “Normalität?”
    An welche?”

    Es ist und bleibt ein schwieriges Thema – zudem auch manchmal die Hochbegabten selbst es sich und anderen nicht leicht machen…

    Viele Grüße
    speybridge