Hochbegabung – Mehr als ein “Entwicklungsvorsprung”
Es gibt sie durchaus, die sinnvollen Überschriften über Zeitungsbeiträgen zum Thema der Hochbegabung bei Kindern. Interessanterweise ist eine heute zu finden in der Münsterländischen Volkszeitung, die auch schon das Thema zum letzten Blogbeitrag lieferte.
Es kommt nicht nur der Kopf in die Schule titelt also diese Zeitung – und da kann man ja nun nur zu 100 % zustimmen.
Der Artikel selbst irritiert dann schon wieder – nein, nicht der Artikel an sich, sondern die Aussage der Leiterin der Grundschule Handarpe, die eigentlich in der Praxis einen sehr vernünftigen Umgang mit hochbegabten Kindern zu haben scheint:
“Woran erkennen Lehrer Kinder mit einer Hochbegabung? ‘Dazu muss man sicher erst einmal die Definition anschauen’, sagt Bärbel Münzberg-Schimpf, Leiterin der Grundschule Handarpe. Und diese sei nicht eindeutig, weshalb die erfahrene Pädagogin – wie einige in der Wissenschaft – lieber von Entwicklungsvorsprüngen spricht.”
Nun ist das mit der Definition der Hochbegabung tatsächlich eine nicht ganz einfache Sache, aber “Entwicklungsvorsprung” halte ich nicht für angemessen. Natürlich gibt es Kinder – und zwar im gesamten IQ-Spektrum –, die zeitweise irgendwo einen “Entwicklungsvorsprung” haben, den andere Kinder mehr oder weniger schnell wieder einholen (können). Ein Entwicklungsvorsprung bzw. -rückstand ist etwas Alltägliches und kommt immer und überall vor: Mein Sohn hat z. B. eher fließend reden als richtig laufen können, hat dann natürlich auch das Laufen gelernt so wie die anderen Kinder – halt später – das richtige Sprechen.
Sorry, aber “Entwicklungsvorspünge” haben nichts mit dem Wesen von Hochbegabung zu tun. Ich vermute hinter dieser “Definition” eher wieder eine Beruhigung, Abwiegelung und die Hoffnung, dass letztlich alle Menschen doch irgendwie wieder gleich ausgestattet sind.
Das aber ist nicht der Fall, das mag man bedauern oder nicht.
Man käme bei einem minderbegabten Kind ja auch nicht auf die Idee, dass es nur einen Entwicklungsrückstand hat, den es schnell wieder einholen könnte… Wie ungerecht wäre das dem Kind gegenüber, das vielleicht sein Bestes gibt, aber niemals an die “normalbegabten” anderen herankommen kann.
Bei einem “Fußballgott” würde man auch nicht auf die Idee kommen, dass seine “Genialität” – nur etwas verspätet – auch von allen anderen erreicht werden könnte. Auch bei Picasso, Goethe oder Steven Spielberg und Madonna würde man niemals sagen, dass sie lediglich einen “Entwicklungsvorsprung” haben, den einzuholen allen möglich sei.
Hochbegabte haben weder nur einen “Entwicklungsvorsprung” noch besteht die Hochbegabung darin, dass diese Menschen diejenigen sind, die lediglich schneller auswendig lernen, super rechnen und bessere Aufsätze schreiben können als andere.
Nein! Das ist es nicht, was Hochbegabung ausmacht! Selbst, wenn es tatsächlich AUCH so sein KANN, dass diese Kinder zusätzlich einen Entwicklungsvorsprung haben, schneller auswendig lernen und besser rechnen können.
Es geht bei Hochbegabten schlicht um eine andere Qualität – mehr noch: um eine Art “Quantensprung” des Denkens.
Vielleicht – der Vergleich hinkt total und ist auch gemein, aber recht anschaulich – stelle man sich den Unterschied zwischen einer 2-Liter-Box Lambrusco vom Discounter, einem soliden Qualitätswein aus dem Supermarkt und einem Superduper-Bordeaux aus einem Jahrhundert-Jahrgang vor.
Bei allen handelt es sich um Rotwein …
Hochbegabte sind z. B. in der Lage, vorhandene Denk-Konstrukte zu sprengen, weil sie Systeme schnell durchschauen, sofort zum Kern vorstoßen – und dann innovativ weitergehen können. Das ist ja auch der Grund, warum der Routine-Unterricht in der Schule so tödlich ist für sie, warum sie abschalten und innerlich verzweifeln, wenn sie z. B. durchschaut haben, wie ein Rechenweg funktioniert, die anderen Schüler aber noch Wochen brauchen, um zu verstehen, worum es überhaupt geht.
Einstein ist nicht der revolutionäre Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts geworden, weil er ein bisschen besser rechnen und ein wenig schneller auswendig lernen konnte als andere.
Es geht bei Hochbegabung nicht nur um ein “bisschen Besser”.
Es geht um eine andere Dimensionierung von Denken.
Einstein hat Denk-Grenzen gesprengt und überschritten, alte Prinzipien über Bord geworfen, feste Überzeugungen, ja alte Weltbilder, zu Ende gedacht und verworfen, bisher bewährte Hypothesen und Denk-Systeme auseinandergenommen und kreativ ganz Neues gefunden und formuliert …
Was man bei Einstein genial findet, schätzt man allerdings bei einem 12-Jährigen überhaupt und noch lange nicht, wenn er dem Lehrer nach 5 Minuten Unterricht schon das ganze Ziel seiner kompletten Unterrichtseinheit von acht Stunden in drei Sätzen zusammengefasst vor die Füße wirft….
Oder wenn ein 7-jähriger Grundschüler bestimmte vorgegebene Rechenregeln partout nicht akzeptieren will, weil sie völlig unökonomisch seien…(“Frollein Meier, nun kuck doch mal: So wie ich das gemacht habe, geht das doch viel schneller und einfacher!”)
Zurück zum Artikel:
Wie auch immer und ganz ehrlich – ich bin nun mal letztlich ein extrem pragmatischer Mensch: Mir ist eine Grundschullehrerin wie Frau Münzberg-Schimpf, die zwar fragwürdig definiert, aber in der Praxis sehr gut mit der Hochbegabung von Kindern umgehen kann, hunderttausende Male lieber als ein exakt und wissenschaftlich korrekt dozierender Hochbegabten-Guru, der im “richtigen Leben” nix wirklich für die Hochbegabten zustande bringt.
Namen gibt’s hier nicht – und alle denken an denselben :-)
Lydia schrieb am 13. September 2010 um 03:19:
Wie kommt es eigentlich, dass Professor Rost bei Hochbegabten so unbeliebt ist und trotzdem als “Experte” auf diesem Thema gilt? Ich meine, dass von den Hochbegabten so gut wie keiner ihn leiden kann, zeigt doch schon, dass er keine Ahnung hat, oder?
speybridge schrieb am 14. September 2010 um 11:53:
Eine (Teil-) Antwort auf diese Frage findest Du vielleicht im Beitrag vom 10.08.2008 “Vom Recht der Hochbegabten, nicht ständig gefördert zu werden”.
Es ist nicht so, dass Rost keine Ahnung hätte, er liegt nur irgendwie krumm und falsch und ist gerne in den Medien…
:-)
speybridge