Archiv für die Kategorie Hochbegabung

Lernfreude? – Lebensfreude?

Passend zum gestrigen Beitrag fand ich heute Folgendes, das deutlich zeigt, dass die Zerstörung von Lern- und Leistungsfreude auch die Zerstörung des Entdeckungsdranges der Schüler, der Motivation und letztlich eines positiven, freudigen Lebensgefühls zur Folge hat:

Streber gibt es nicht, sie werden von ihren Mitschülern, ihren Eltern, ihren Lehrern und nicht zuletzt auch der Kultur, in der sie leben, dazu gemacht.

Eine Anekdote
Eine deutsche Familie hält sich für ein halbes Jahr in Kanada auf. Die jugendlichen Kinder (ein Junge, Klasse 10, ein Mädchen, Klasse 6) gehen in die kanadische Schule. Eines Tages kommt der Sohn nach Hause und erzählt, dass die Schüler am besagten Tag ein Essay über ihre Eindrücke von Kanada einreichen mussten, und da hätten doch viele Mitschüler das Deckblatt bunt ausgemalt, hätten alles mit dem Computer erstellt und sich total viel Mühe gegeben, ohne dass es hierzu Anweisungen gegeben hätte. Er habe nur handschriftlich versucht, seine Eindrücke zusammenzufassen und auch kein richtiges Deckblatt gehabt.
Fazit: “Da muss ich mich beim nächsten Mal irgendwie mehr reinhängen.”
Dann nach einem halben Jahr Rückkehr nach Deutschland. Derselbe Sohn hat im Musikunterricht seiner deutschen Schule ein Referat über Bob Marley zu halten. Angebot des Vaters: Du, da habe ich noch Material über Jamaika von meiner Reise dorthin vor 17 Jahren, das könntest Du vielleicht mitnehmen.
Antwort des Sohnes: “Papa, ich bin doch kein Streber…”

Wie kommt es zu diesem Einstellungsunterschied? Was macht Schüler in Deutschland so anfällig für den Strebervorwurf? Anscheinend ist es in unserem Land unter Schülern verpönt, besonders gute Leistungen zu zeigen. Insbesondere zwischen dem Eintritt in die weiterführende Schule und dem Beginn der gymnasialen Oberstufe traktieren sich deutsche Schüler untereinander mit dem Vorwurf des Strebertums.
(Quelle: www.familienhandbuch.de/cmain/f_Aktuelles/a_Schule/s_1472.html)

 

Lernfreude – Lebensfreude


Gestern wieder ging durch die Medien, dass das Bildungsniveau der Deutschen im Verhältnis zu anderen Staaten noch wieder gesunken sei.

Wen wundert’s.

Bei der jährlichen Lehrlingsauswahl für eine Ausbildung zum Bürokaufmann war ein erschreckendes Erlebnis, dass wirklich von Jahr zu Jahr das Niveau der Anwärter dramatisch sank. Besonders beunruhigend zu beobachten war dabei weniger das tatsächliche Absinken der Noten (bis hin zu schlechten Noten in sonst sicheren Fächern wie Sport, Religion, Kunst), sondern vor allem das Verschwinden an grundsätzlicher Motivation, ja: das Verschwinden an Lebensinteresse. Es existierte dabei kaum ein erwähnenswerter Unterschied zwischen Hauptschülern und Gymnasiasten.
Da gab es keine wirklichen Hobbys mehr, keine Teilnahme an irgendwelchen Aktivitäten, kein (ehrenamtliches) Engagement, keine Vereinszugehörigkeit, keine individuellen Besonderheiten: “Computer, Musikhören” war die Standardangabe zu den Hobbys – und zwar zu fast 100%. Nichts weiter! Da war noch nicht einmal ein emotional trotziges “Null-Bock” zu spüren, sondern nur gähnende, schwarze Öde, Leere.
Eine erschreckende Lethargie bei jungen Menschen, die doch eigentlich gerade erst anfingen, das Leben zu entdecken, aber von vorneherein keine Lust daran zu zeigen schienen, sich im Geben und Nehmen dem offen zuzuwenden, was das Leben an Möglichkeiten für sie bereitstellt.

Alle Reformen, so begrüßenswert sie sein mögen, greifen so lange nicht, wie die Atmosphäre in Schulen, in Elternhäusern – ja überall – nicht lernfreudig, nicht lebensfreudig ist.

Reformen innerhalb eines toten Systems bringen nicht weiter.

“Wann sollen wir das denn alles auch noch machen!”, stöhnen die Lehrer, und sie haben insofern Recht, als sie individuelle Förderung innerhalb des alten Rahmens des in 45 Minuten eingepressten Frontalunterrichtes vor über 30, zum Teil schwierigen, sprach- und/oder verhaltensgestörten, Schülern wirklich nicht leisten können.

Diese starre System ist es, was verändert werden muss. Vor allem im Grundschulbereich hat der Gesetzgeber – jedenfalls in NRW – schon vor etlichen Jahren alle Möglichkeiten dazu eröffnet. Dort geht eine Menge. Es wird nur nicht wirklich genutzt, weil meist der Mut zu Neuem fehlt.

Lehrer, die in Schulen arbeiten, in denen projektabhängige Zeitschienen existieren, in denen Schüler, angeleitet, jahrgangsübergreifend frei an Themen arbeiten und Lernen lernen können, erzählen unisono, dass all dies weniger Arbeit bedeutet, dass mehr Zeit bleibt für die individuelle Beobachtung und Unterstützung der Schüler, dass all dies befriedigender sei für Lehrer und Schüler – und die gesamte Atmosphäre sich gewandelt habe hin zu einem sachbezogenen kommunikativen Miteinander.

Dafür aber sind neue Strukturen nötig, die gar nicht mehr kosten müssen als es die ständige “Reparatur” und Aufrechterhaltung des alten Systems tut, ohne effektiv zu sein.

Lehrer zu sein, bedeutet nicht vordringlich, alles zu wissen und “Stoff” zu vermitteln. Es bedeutet, in Beziehung zu treten, den Schülern dabei zu helfen, lernen zu lernen, leben zu lernen.
Eigentlich: Was für ein wunderbarer Beruf!

 

Pille gegen Tennis

Seit vielen Jahren gehe ich nun mit dem Thema Hochbegabung um. Es gibt doch immer wieder noch etwas, worüber ich nur den Kopf schütteln kann:

Mutter: “Mein Sohn hatte Schwierigkeiten. Da haben wir ihn vor ein paar Jahren testen lassen. Er war hochbegabt. … Jetzt ist er immer noch hochbegabt. Können Sie mir nicht ein Medikament nennen, damit das endlich verschwindet?”

Man stelle sich vor: Die Mutter von Boris Becker geht zum Arzt: “Herr Doktor, können Sie mir nicht für mein Bobbele

 

Hochbegabte Kinder

Ich werde oft gefragt – und das meist mit negativem Unterton – , warum, um alles in der Welt, ich meine kostbare Zeit und mein Engagement schon so lange Jahre lang in den Dienst der Unterstützung hochbegabter Kinder einsetzen würde. Und dann kommen, mit untrüglicher Sicherheit, Argumente dagegen, z.B., dass es ja nun genug Menschen gebe, die weit dringender der Unterstützung bedürften, dass ‘Eliten’ nicht auch noch gefördert werden müssten und dass diese Kinder es ja nun wirklich gut hätten, weil sie ja doch so klug seien etc. etc.

Ich muss dann immer seufzen.

Man stelle sich ‘Petra Mustermann’ vor, die Prototypin aller Deutschen, mit einem Durchschnitts-IQ von 100.
‘Petra Mustermann’ hat kein Problem. Sie ist “normal”.

Kinder, die einen IQ von ca. 70 haben, die haben natürlich ein Problem. Keiner bezweifelt das. Aber für diese Kinder gibt es: eine eigene Pädagogik, eigene Schulen, eigene Studiengänge für ihre Lehrer, eigene Lehrpläne, eigene Materialien und eigene Schulbücher – und das gebündelte Verständnis der gesamten Nation dafür, dass man sich um diese Kinder besonders kümmern muss. Das ist ja auch richtig.

Kinder, die einen IQ von ca. 130 haben, von denen erwartet man jedoch, dass sie mit ‘Petra Mustermann’ alles teilen, zufrieden sind mit dem, womit auch ‘Petra Mustermann’ zufrieden ist.

Diese Kinder mit einem IQ von 130, die sind von ihrem IQ her von ‘Petra Mustermann’ genau so weit entfernt wie die Kinder mit einem IQ von 70. Bei ihnen aber wird vorausgesetzt und erwartet, dass sie genau so sind wie ‘Petra Mustermann’ – und sich dann auch noch gut benehmen.

Wenn Kinder gute Schwimmer sind – akzeptiert dann irgend jemand, dass sie die ganze Zeit im Nichtschwimmerbecken verbringen sollen, weil die anderen halt nicht schwimmen können?

Niemand tut das.

Bei hochbegabten Kindern erwartet man aber genau das. Wie soll das gutgehen?

Das kann nicht gutgehen: Weder für die Kinder noch für unsere Gesellschaft, die gut geschulte und menschliche reife Intelligenz so dringend braucht.

Diese Kinder haben so großes Potenzial! Aber viele von ihnen leiden – meist unter der Ignoranz derjenigen, die glauben, die Normalität für sich gepachtet zu haben, unter Mobbing, Unverständnis, Ausgrenzung, allen möglichen Arten psychischer Verletzungen und nicht zuletzt unter der nicht endenwollenden Unterforderung.

Leiden hat viele Gesichter – und immer ein individuelles. Ist das Leiden hochbegabter Kinder weniger wert als das Leiden minderbegabter oder weniger wert als anderes Leiden? Wer will daüber urteilen?